Die Große Mutter

Fritz Griebel: Die Große Mutter, 1950er-Jahre, Scherenschnitt, 54 x 40 cm, FG 2352

Fritz Griebel hatte sein Leben lang in Papier geschnitten. Er gehört neben Philipp Otto Runge (1777–1810) zu den wenigen Schnittkünstlern, die ein ganzes Oeuvre hinterließen, das sich in einzelne Werkphasen untergliedern lässt. Dieses Werk des Monats gehört zum Alterswerk und ist eines der rätselhaftesten. Schauen wir es uns einmal näher an.

Eine Frauengestalt mit einer herzförmigen Kopfform ist in ein langes Kleid oder Rock gekleidet und hat ihre Arme vom Körper abgewinkelt. In der linken Hand hält sie eine Kugel oder Scheibe mit einem stilisierten Vogel – vielleicht eine Taube?–, in der anderen drei Fäden einer nackten männlichen Marionette. Gliederpuppe und Kranich zur Linken der Frauenfigur sind wie Assistenzfiguren angeordnet. Unterhalb der Gruppe – getrennt von einer dickeren Linie – schlängelt sich eine Schlange mit geöffnetem Maul von links nach rechts.

Auffällig sind die Muster der Kleidung – Wellenlinien, horizontale und vertikale Linien, die sich auf dem Rock zu einem senkrecht nach oben stehenden Fisch figurieren. Die Gesichtslinien der Frauenfigur sind stilisiert. Mit weiteren Binnenschnitten akzentuierte Griebel die Flügel des Vogels sowie den Körper der Marionette.

Nach 1945 begann Griebel, seine Papiere im handlithografischen Verfahren selbst zu drucken. Das gleichmäßige oder glänzende Schwarz der im Handel erhältlichen Papiere gefiel ihm nicht mehr. Seine selbst gedruckten Papiere zeichnen sich durch ein feinstrukturiertes, zum Grau neigendes Schwarz aus.

Die Bildsprache ist reduziert und mutet fast archaisch an. Aber wie ist das Schnittbild zu deuten? Griebel setzte sich besonders in seinen Scherenschnitten mit christlicher Religion bzw. Ikonografie und antiker (Klein-)Kunst auseinander. Fisch, Kranich, Schlange, Taube und auch das Herz sind christliche Symbole. Griebel kannte sich mit den christlichen Symbolen bestens aus, verfasste er 1959 selbst ein Buch mit dem Titel „Zeichen der Christenheit“, in dem er diese Symbole im Scherenschnitt festhielt mit Begleittexten.

Eucharistische Fische, Wandmalerei aus der Calixtus-Katakombe, 2./3. Jahrhundert. Quelle: www.wikipedia.org

Der Fisch ist das Sinnbild der Gläubigen, die von Christus als dem „Fischer der Sterblichen“ und den Aposteln als den Menschenfischern gefangen genommen werden, wobei der Fischfang „Sinnbild der Rettung des Christen aus dem gefahrvollen Meere der Welt und Sinnbild der Wiedergeburt aus der Taufe“ ist. Die Fischsymbolik tauchte sehr wahrscheinlich in der Mitte des 2. Jh. auf und hier besonders in der christlichen Grabeskunst, oft auch verbunden mit der Ichthys-Inschrift. Das griechische Wort für Fisch ἰχθύς (ichthýs) enthält ein kurzgefasstes Glaubensbekenntnis (Ἰησοῦς Χριστός Θεοῦ Υἱός Σωτήρ: Jesus (der Gesalbte) Gottes Sohn Erlöser.

Deuten wir den Vogel auf der Scheibe oder Kugel als Taube, so denken wir natürlich als Erstes an das Sinnbild des Heiligen Geistes oder an die Verkündigung Marias. Die Taube gilt aber auch als Bild für Liebe Reinheit, Treue und Unschuld. Auch der Kranich ist ein Tugendsymbol. Der steinhaltende Vogel ist ein Sinnbild der vigilantia, der Wachsamkeit und Fürsorge.

Die Schlange wiederum zeichnet sich im Alten und Neuen Testament durch widersprüchliche Eigenschaften aus: Sie gilt als listiger als die anderen Tiere und als klug. Ihr Weg ist unerforschbar, sie wohnt in Mauern; sie symbolisiert ränkevolle Menschen, die Sünde, das Böse schlechthin. Überhaupt gilt sie als Tier des Todes. Sie ist das Werkzeug des Teufels und verführte Adam und Eva, woraus sie der Fluch Gottes traf. Eine positive Symbolik ist mit der Eherne Schlange verbunden, wonach Moses auf Anweisung Gottes eine aus Kupfererz geformte Schlange aufstellte als Heilung nach dem Biss feuriger Schlangen.

Im antiken Griechenland jedoch war die Schlange heilig. Durch ihre regelmäßigen Häutungen galt sie für unsterblich. Dieser ständige Akt der Verjüngung und die Tatsache, dass der Schlange Heilkräfte zugesagt wurden, machten die Schlange schließlich zum Symbol für den Stand der Mediziner. Auch noch heute begegnet uns die Schlange im Zeichen des Äskulapstabes, den man stark vereinfacht in einigen Apothekenzeichen. Auch wurde ihr Hellsichtigkeit zugesprochen, weshalb sie eines der Tiere der Göttin Gaia, der Erdgöttin, war. Es gab Schlangenpriesterinnen (Pythea) im Orakel von Delphi, und es gab im Garten der Hesperiden, hellsingende Nymphen, den lebensspendenden Apfelbaum, der der Göttin Hera, der Gattin und Schwester von Zeus, von Gaia geschenkt worden war und von der Schlange Ladon bewacht wurde.

Prägebild mit eingeklebter Chromolithographie 1896, 5,5 × 8 cm. www.wikipedia.org

Das Herz, das Griebel einmal als Kopfform und einmal als am Ende der Fäden der Marionette schnitt, ist in der Heiligen Schrift Sitz des physischen und vor allem geistigen Lebens. Seit Augustinus ist es ein Symbol der Gotteseinkehr und Innerlichkeit. Als allgemein-emblematische Bildzeichen symbolisiert das Herz die Begehrlichkeiten des Menschen in spätmittelalterlichen Darstellungen der Zehn Gebote. Das sündige menschliche Herz ist im 17. bis 18. Jahrhundert vor allem Thema zahlreicher religiöser Emblem- und Erbauungsbücher und findet sich als emblematisches Motiv vielfältig abgewandelt in Andachtsbildern.

Die Herzform ist die Verbindung zwischen Frauenfigur und Marionette. Seit der Antike sind marionettenartige Gliederpuppen bekannt. Griebel malte und schnitt öfter antike Gliederpuppen. Sie sind aber niemals derart stilisiert und als Rückenfigur wiedergegeben wie in diesem Schnittbild.

Führen wir unsere Beobachtungen zusammen. Liegt es zwar nahe, die Bildzeichen mit der christlichen Welt in Bezug zu setzen, so ist eine Deutung des Schnittbildes doch schwierig. Vielmehr scheint es, als ob Griebel christliche und antike Traditionen mit einander verbindet. Nach dem Schweizer Psychiater und Begründer der Analytischen Psychologie, Carl Gustav Jung (1875–1961), bezeichnet der Begriff Archetypus bzw. Archetyp („Urform“) Grundstrukturen menschlicher Vorstellungs- und Handlungsmuster im kollektiven Unbewussten. Er ist unanschaulich und unbewusst, zeigt sich aber in symbolischen Bildern im Traum, Visionen, Psychosen, künstlerischen Werken, Märchen und Mythen. Jung entwickelte seine Theorie der Archetypen unter anderem aus der vergleichenden Religionswissenschaften, der Mythologie, Alchemie, Märchen, Sagen, astrologische Vorstellungen und aus Träumen, besonders von Kindern.

Fritz Griebel: Gliederpuppe, 1950er-Jahre, Scherenschnitt, 55 x 39 cm, FG 2250

Griebels Schnittbild kann als archetypische Sichtbarmachung gedeutet werden. Es scheint vor allem die Struktur der menschlichen Psyche – und hier im Besonderen die des Mannes –, visualisiert zu sein. Nach Jung hat die Seele des Menschen zwei gegengeschlechtliche Bereiche: Anima und Animus.

Die Frauenfigur kann als Große Mutter, als Anima-Archetyp, interpretiert werden. Sie verankert besonders im männlichen Unterbewussten die Vorstellung einer gebärenden und Schutz gebenden Frau. Sie hat aber auch negative Eigenschaften als zerstörende und verschlingende Mutter. Kennzeichnend für „das Mütterliche“ sind „das Gütige, Hegende, Tragende, das Wachstum, Fruchtbarkeit und Nahrung spendende“, „die Weisheit und die geistige Höhe jenseits des Verstandes“, „die magische Autorität des Weiblichen“. Der Archetyp steht für eine „Stätte der magischen Verwandlung, der Wiedergeburt“, für „den hilfreichen Impuls, das Geheime, Verborgene, das Finstere, den Abgrund, die Totenwelt“, aber auch für das „Verschlingende, Verführende, Vergiftende, das Angsterregende und Unentrinnbare“. Der Archetyp der Anima sei „die Schlange im Paradies der guten Vorsätze, die moralische Hemmungen zerstöre und Mächte entfessele, die man besser im Unbewussten gelassen hätte.“ (Sonnek 2003, S. 7).

Neben der eigenen Mutter, Stiefmutter und Kinderfrau, taucht der mütterliche Anima-Archetyp als weibliche Gottheiten, wie Isis, Kybele, Astarte, Parvati, Mitra, Al- Lat, oder las Gaia, Demeter, Hera, Aphrodite, bis hin zur christlichen Mutter Gottes auf. Die Schlange ihrerseits ist ein profaner Mutter-Archetyp, die um- und verschlingt. Griebels Frauenfigur, umgeben von christlichen Tugend- und Glaubenssymbolen sowie der bösen, listigen Schlange ist so eine (ambivalente) Gottheit.

Die Marionette in ihrer Hand ist ihr Sohn. Nach Jung projiziert nun das Kind häufig den im kollektiven Unbewussten angelegten Mutter-Archetyp auf seine eigene Mutter und schreibt ihr Eigenschaft zu, die ihr selbst gar nicht anhaften, was zu Neurosen führen könne. Bei Griebel fand keine Herauslösung der Anima des Kindes aus dem Mutterarchetyps statt. Die Große Mutter bleibt die Fädenzieherin in seinem Leben.

 

Antje Buchwald 2018

 

Literatur:

  • Fritz Griebel: Zeichen der Christenheit. Nürnberg 1959.
  • Carl Gustav Jung: Die psychologischen Aspekte des Mutter-Archetyps (1938). In: C.G.Jung: Archetypen. München 1990, S. 75ff.
  • Carl Gustav Jung: Der Mensch und seine Symbole. Olten 1993.
  • Stichwort „Fisch“. In: LCI. Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 2, Sp. 35–42. Rom/Freiburg u.a. 1994/2004.
  • Stichwort „Herz“. In: LCI. Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 2, Sp. 248–249. Rom/Freiburg u.a. 1994/2004.
  • Stichwort „Kranich“. In: LCI. Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 2, Sp. 557–558. Rom/Freiburg u.a. 1994/2004.
  • Stichwort „Schlange“. In: LCI. Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 4, Sp. 75–81. Rom/Freiburg u.a. 1994/2004.
  • Stichwort „Taube“. In: LCI. Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 4, Sp. 241–244. Rom/Freiburg u.a. 1994/2004.
  • Birgit Sonnek: C.G. Jung: Die Archetypen (Urbilder im kollektiven Unbewussten), März 2003 (schlüsseltexte-geist-und-gehirn.de/downloads/Archetypen.pdf; letzter Zugriff 11.3.2018)