Annette als Chinesin

Fritz Griebel: Annette als Chinesin, um 1948, aquarellierte Tuschzeichnung, 43 x 26 cm, FG 2647

Künstler und Künstlerinnen haben seit je ihnen nahestehende Menschen porträtiert. Das Modell ist in ihrer unmittelbaren Nähe und sie verbindet eine besondere Beziehung zu diesem Menschen. Besonders Kinderporträts zählen hierzu.

Kinderdarstellungen in der bildenden Kunst haben eine lange Tradition, die bis in die Antike zurückreicht. Sie sind eng mit der Kultur- und Sozialgeschichte verknüpft. Die Geschichte der Kinderdarstellungen ist eine dauernde Wechselwirkung zwischen den Zeitgeist tragend und von ihm getragen werdend. Im Werk Fritz Griebels sind an die hundert Kinderbildnisse erhalten. Viele hiervon sind Skizzen. – Sensibel eingefangene Augenblicke im Leben seiner Kinder Annette (1940–1994) und Peter.

Dieses Werk des Monats zeigt seine Tochter Annette, von ihren Eltern liebevoll »Bimbi« genannt, als Chinesin verkleidet. Auf dem Kopf trägt sie den traditionellen Reishut, auch Kegelhut genannt sowie die (für Bauern) typische zweiteilige Kleidung aus langärmeliger Jacke und Hose. Auch der chinesische Zopf (Pinyin), im 17. Jahrhundert ein Zeichen der Unterdrückung der Han-Chinesen durch die Mandschuren, darf nicht fehlen. Griebel zeichnete seine Tochter im Halbprofil. Ihr Kopf ist etwas nach unten geneigt, der Blick ist auf die zusammengeführten Hände der leicht angewinkelten Arme gerichtet.

Bei kaum einer anderen Form bildlicher Darstellung scheinen Entstehung und Betrachtung, Produktion und Rezeption derart eng mit einander verbunden zu sein wie bei der Zeichnung. Nicht nur das ,Was‘ ist von Bedeutung, sondern auch das ,Wie‘: Wie ist etwas dargestellt und wie ist das sichtbare Bild entstanden?

„In der Zeichnung markiert die Linie nicht nur Formen, sie ist vielmehr zugleich Strich und damit Ergebnis eines Zeichenaktes. Noch an der Linie, ihrem Anfang, Verlauf und Ende, an den Schwankungen ihrer Breite, ihren Absätzen und neuen Ansätzen, ihren Zacken und Wellen wird etwas vom Zusammenspiel von Hand, Papier sowie Stift Feder oder Pinsel erfahrbar, in dem die Linie entstand. Die Offenheit der Zeichnung, in der sich die graphischen Spuren in der Regel überschneiden oder überkreuzen, ohne sich – wie in der Malerei – gegenseitig auszulöschen, läßt es oftmals zu, tatsächlich einzelnen Linien nachzugehen. Folgt der Betrachter sukzessive dem Verlauf einer Linie, so kann er im Idealfall den Eindruck gewinnen, dem ursprünglichen Zeichenakt nachzuspüren.“

Die Definition der Zeichnung von Johannes Grave wollen wir versuchen auf die kolorierte Tuschzeichnung Griebels anzuwenden. Da ist zunächst die geschwungene Konturlinie des Gesichts: die runde Stirnlinie, die in die gerade Nasenlinie übergeht, ein kleinen Bogen zieht und das Näschen formt, es folgt eine sehr kleine Linie für die Lippenpartie, die in einer dickeren Linie als Mund endet. Dann setzte der Künstler die Feder erneut an und zeichnete die rundliche Kinn- und Wangenpartie. Das Gesicht schraffierte er, indem er sehr dünne Linien horizontal auf Wange und Nacken verteilte. Sie verschatten das Gesicht etwas.

Der schattenspende Hut besteht aus einem Dreieck, auf dem die Bambusblätter als kurze vertikale Striche angedeutet sind. Der aus dem Hut hervorspringende lange Zopf sind zwei parallel verlaufende Linien, in deren Mitte Kreuzlinien für das geflochtene Haar sind. Keck hängen die Schleifenbänder herab.

Bei der langen, weiten Jacke tauchen die Schraffurlienie, dieses Mal jedoch in größerem Abstand zueinander wieder auf. Während die Rückenpartie mit einer graden Linie gezeichnet worden ist, ist der Saum schwungvoll mit einer zaghaften Wellenlinie gezeichnet.

Fritz Griebel: Annette als Chinesin (alternative Version), 9.2.1948, aquarellierte Tuschzeichnung, 29 x 19 cm, FG 2593

Die lange, weite Hose ist fast ein Bravourstück. Die zarte schwarze Umrisslinie ist fast ausgelöscht. Nur einzelne blaue und rote vertikal verlaufende Linien scheinen sie zu formen. Die Hose endet im Nichts.

Die wenigen Farbakzente auf Jacke, Hose, Kette verteilen sich locker auf der Bildfläche. Einzig das ausgemalte Gesicht als komplette Farbfläche zieht unseren Blick an. Wir blicken Annette direkt an. Sie aber hat ihren Blick – nur angedeutet als dicker kurzer Strich – gesenkt auf ihre Hände. Tragen sie etwas?

In einer weiteren Zeichnung hielt Griebel seine Tochter ebenfalls im Profil an einem Tisch sitzend fest. Dieses Mal ist sie vertieft dabei, ein Schnittbild auszuscheiden. Die Schere ist nur angedeutet, bunte Schnipsel liegen auf dem Tisch. Diese Fassung versah Griebel mit mehr farbigen Akzenten. Doch auch hier lässt uns der Linienzug nachvollziehen. Er ist Ausdruck einer Bewegung, die Spuren auf der Bildfläche hinterlässt. Diese kleine, meisterliche Arbeit, die uns am Bildprozess teilhaben lässt, hält einen Moment kindlichen Tuns fest, der bereits während seiner Entstehung nur noch eine Spur der Erinnerung ist.

 

Antje Buchwald
Kunsthistorikerin 2018

 

Literatur:

  • Johannes Grave: Zeichnung ohne Zug. Über das Unzeichnerische in der deutschen Kunst um 1800. In: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, 53/2 (2008), S. 233–260, Zitat S. 233f.