Fritz Griebel ist ein Künstler der Erzählung. Früh zeigte sich dieses Talent, als er als Kunststudent 1920 mit Scherenschnitten zur Passionsgeschichte und Apokalypse, zu Legende, Mythologie und Märchen auf sich aufmerksam machte. Es folgten Illustrationsschnitte für „Im Kreis des Tages“ (1921), „Gottesgarten“ (1922, 1929) sowie für „Das Wandernde Sternlein“.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde abstrakte Kunst zur „Weltsprache“ stilisiert. Sie galt als freiheitlich und autonom. Die Bundesrepublik Deutschland, gegründet 1949, wollte sich einerseits vom Nationalsozialismus und dessen totalitärem Staat und andererseits von der Kunstdoktrin der Deutschen Demokratischen Republik (1949–1990) abgrenzen. Die neue deutsche Kunst sollte internationale Züge repräsentieren und gleichzeitig eine deutsche nationale Identität ausdrücken. Mit der Abstraktion war die idealistische Vorstellung verbunden, durch Kunst gesellschaftliche Widersprüche zu überwinden. Abstrakte Kunst war gar der Ausweis für gelungene Reeducation, für Europäisierung, für Westintegration und damit für eine gelungene Überwindung des NS-Regimes.
Ab den späten 1950er-Jahren wandte sich Griebel ebenfalls der Abstraktion zu. Es entstehen bis in die 1960er-Jahre hinein abstrakte Gemälde, abstrahierende Schnittbilder und vor allem Aquarelle in leuchtenden Farben. Sein ausgeprägtes Gefühl für Form und Komposition war in den Scherenschnitten angelegt, verlangt doch die Schnittkunst nach einer Essentialisierung der Form.
Dieses Aquarell im Hochformat zeigt auf einer grauen Fläche in verschiedenen Abstufungen zwei rote Kreise sowie zwei Rechtecke in Blau und Gelb. Die Flächen der geometrischen Figuren sind zusätzlich durch Kreise und Muster belebt. Die Zone des Überlappens der Formen hob Griebel besonders hervor, indem er sie farblich akzentuierte: Beim Kreis ist dies Orange, welches eine komplementäre Farbe zu dem blauen Rechteck ist; bei dem unteren gelben Rechteck ist es ein schmales Rechteck im hellen Gelb.
Die Formen liegen nicht statisch auf der Fläche. Vielmehr wird durch das Mittel des Überlappens der Eindruck von Bewegung suggeriert. Cézanne (1893–1906) war der erste Künstler, der begann, Objekte in einfache Formen zu zerlegen. Für Wassily Kandinsky (1866–1944) bezeichneten die abstrakte Formen keine realen Gegenstände mehr, sondern im Sinne Platons einfache geometrische Formen. Materie wird Form.
Antje Buchwald
November 2020