Frauenakt

Fritz Griebel: Frauenakt. frühe 1930er-Jahre, Rötel/Papier, 44 x 55 cm.

Auf einem mittelgroßen Blatt Papier zeichnete der Künstler eine nackte Frau. Ihr Körper ist leicht zur Seite gedreht. Ihre Arme liegen am Körper an. Ihr Haar fällt auf die Schultern herab. Ihre linke Gesichtshälfte ist verschattet, die Gesichtszüge sind insgesamt kaum zu erkennen. Das rechte Bein ist vor dem linken. Aber wo endet das linke Bein? Fritz Griebel zeichnete mehrere Linien hintereinander. – Die Frau ,geht‘ über das Papier.

Edgar Degas: Jockeis vor dem Start mit Fahnenmast, 1879, 180×74 cm, Barber Institute of Fine Arts, Birmingham

Die Suggestion einer Bewegung erzeugte der Künstler durch kompositorische und technische Mittel: So positionierte er den weiblichen Akt nicht in der Bildmitte, sondern fast an den Rand. Er zeichnete die Figur leicht seitlich, so dass der Eindruck einer Bewegung verstärkt wird. Er schneidet den linken Fuß ab und zeichnet das linke Bein zweimal, jedoch nur mit Linien, die keinen Kontur wiedergeben.

Bewegung im Bild zu suggerieren war für viele Künstler Thema in zwei- und dreidimensionalen Werken. Edgar Degas (1834–1917) z. B. erreichte den Eindruck der Bewegung, indem er seine Bildfiguren anschnitt. Degas, der sich mit der aufkommenden Fotografie beschäftigte, komponierte viele seine Bilder wie einen Schnappschuss. Dadurch entsteht der Eindruck einer spontan festgehaltenen Bewegung bzw. Situation.

Eadweard Muybridge: The Horse in Motion, 1878

Der Impressionist Degas war nicht der einzige Künstler, der sich mit der Technik und Mitteln der Fotografie auseinandersetzte. Bahnbrechend waren für sie die Fotografien und Veröffentlichungen von Eadweard Muybridge (1830–1904). Muybridge ist ein bedeutender Vertreter der frühen Chronofotografie, d. h. der fotografischen Dokumentation von Bewegungen oder Prozessen. In seinen Serienaufnahmen konnte der Fotograf so 1878 nachweisen, dass ein Pferd im Galopp kurzzeitig mit allen vier Hufen abhebt. Sein Anliegen war es nicht zuletzt, Künstlern und Wissenschaftlern neue Erkenntnisse über den menschlichen und tierischen Bewegungsablauf zu liefern.

Eadweard Muybridge: Woman Walking Downstairs, aus: The Human Figure in Motion, 1901

Marcel Duchamp (1887–1968) verarbeitete in seinem heute zur Ikone der klassischen Moderne zählendem Werk Akt, eine Treppe herabsteigend, Nr. 2 von 1912 (Link zum Bild) Einflüsse des Kubismus und Futurismus sowie von Chronofotografie und dem noch jungen Medium Film.

Dargestellt ist ein abstrahierter Akt in Ocker- und Brauntönen. Den Bewegungsablauf stellte der Avantgardist als ineinander übergehende Einzelbilder dar. Der Körper, der wie eine Maschine wirkt, ist in konische und zylindrische Körperteile separiert, die eine gewisse Rhythmik erkennen lassen. Duchamp ging es, wie er konstatierte, um „den visuellen Eindruck der Idee von Bewegung“. Es war ihm nicht wichtig, ob es sich um eine reale Person handelt, die eine Treppe hinuntersteigt.

Ein weiteres Mittel, welches Fritz Griebel in seiner Zeichnung anwandte, ist das Prinzip der Unschärfe. Hatte bereits Leonardo da Vinci (1452–1519) für die Fernwirkung seiner Landschaften sein heute berühmtes sfumato angewendet, das Landschaften in einen nebligen Dunst hüllt und alles weich zeichnet, so wendet Gerhard Richter (*1932) die Ästhetik der Unschärfe in seiner Malerei konsequent an und machte ihn in den 1960er-Jahren mit seinem Gemälde Ema schlagartig berühmt (Link zum Bild). Richter zählt zu den bedeutendsten Künstlern der Gegenwart, für dessen Werke Millionen gezahlt werden.

Richter setzt wie kein anderer Künstler vor und nach ihm das Prinzip der Unschärfe konsequent in seiner Kunst ein: In figürlichen Gemälden, deren Motive oft populärer Printmedien entlehnt sind, in seinen auf fotografischen Vorlagen beruhenderen Figuren, Landschaften und Stillleben sowie in seiner abstrakten Malerei.

Das Bild Ema (Akt auf einer Treppe), das sich auf Duchamp beruft, entstand nach einem Polaroid-Foto Richters und zeigt seine erste Ehefrau Marianne Eufinger, genannt Ema, die nackt die Treppe des Wohnhauses in Düsseldorf-Oberkassel heruntergeht. Mit einer Polaroid-Kamera zu arbeiten war damals unter Künstlern sehr angesagt. Richter hängte das Foto neben seine Staffelei und malte das Motiv ab und verwischte es mit dem Pinsel. Die Unschärfe zerstört das Privat-Intime. Der Akt wird anonymisiert.

Griebel, der über dreißig Jahre vor Richter diese Zeichnung schuf, beschäftigte sich in seiner Kunst immer wieder mit dem menschlichen Körper. In diesem Werk des Monats setzt Griebel die Bedeutung des Begriffs Akt buchstäblich um: Akt meint „in Bewegung setzen“ (von lat. agere).

Fritz Griebel: Frauenakt (Detail)

Er zerlegt den menschlichen Körper nicht in ein Facettensystem wie Duchamp. Bewegung vermittelt Griebel durch eine gewisse Unschärfe, die besonders die linke Körperhälfte dominiert. Das Gesicht bleibt so nur schemenhaft; der Arm ist eigentlich kein Arm, sondern eine konturlose Fläche und das Bein hat keinen eindeutigen Unterschenkel. Er besteht aus leicht gebogenen Linien, die in horizontalen Linien enden, die sich unterbrechen, einen Bogen machen und wieder neu ansetzen und eine kleine Linie bilden. – Schritt für Schritt für…

Im Gegensatz zu Duchamp, dem es um die „Idee von Bewegung“ ging, der Körper quasi Mittel zum Zweck ist, löst Griebel die Bewegung nicht vom Körper. Er kann es auch gar nicht, thematisiert er doch in seiner Kunst Wesen und Wirken des Menschen. Fritz Griebel ist in diesem Sinne ein humanistischer Künstler.

Antje Buchwald 2015

Literatur:

  • Hans Christian Adam (Hg.): Eadweard Muybridge. The Human and Animal Locomotion Photographs. Köln 2010.
  • Marcel Duchamp: Der kreative Akt. Duchampagne brut. 2. Aufl. Hamburg 1998.
  • Wolfgang Ulrich: Die Geschichte der Unschärfe. Berlin 2002.