Das Brandenburger Tor

Fritz Griebel: Das Brandenburger Tor, 1955,, Tapisserie (Entwurf Fritz Griebel, Ausführung Nürnberger Gobelin Manufaktur), 272 x 290 cm.

Die im Auftrag der Deutschen Treuhand AG (heute PricewaterCoopers) in der Nürnberger Gobelin Manufaktur (1941-2004) hergestellte Tapisserie nach einem Entwurf von Fritz Griebel konnte kürzlich durch die Nachlassverwaltung Fritz Griebel erworben werden.

Der Bildteppich zeigt im Zentrum das Brandenburger Tor. Über der Quadriga des Bauwerkes ist das Wappen der Stadt Berlin zu erkennen. Unter dem Gebäude ist zentriert der Schriftzug „BERLIN“ zu lesen, zwischen dem sich ein Ast eines Baumes erhebt. Er scheint aus den Trümmern zu erwachsen, die das Motiv in der unteren Bildzone hin abschließen.

Das Brandenburger Tor am Pariser Platz, gelegen in Berlin-Mitte, avancierte zum bedeutendsten Wahrzeichen der Stadt und ist zugleich ein nationales Symbol für die Einheit Deutschlands geworden, markierte es doch die Grenze zwischen Ost- und West-Berlin.

Ursprünglich war das Brandenburger Tor ein reiner Zweckbau. Parallel zum Abbruch der Berliner Festungsanlagen erhielt die Stadt zwischen 1734 und 1737 eine Mauer, welche das erweiterte Gebiet eingrenzte. Sie hatte keinerlei Befestigungsfunktion mehr, sie sollte vielmehr die Desertion von Soldaten verhindern und diente als Zollgrenze für Warenimporte und -exporte. Seit 1658 lag auf Waren, die in der Stadt verkauft wurden, eine Akzise, eine Verbrauchssteuer, die für die Finanzierung des stehenden Heeres diente.

Daniel Chodowiecki: Brandenburger Tor. Blick nach Westen zum Tiergarten. Ansicht 1735-1788. 1764, Kupferstich.

In die Akzisemauer wurden 14 Stadttore gelegt. Noch aus der Festungszeit stammen das Stralauer Tor, Georgentor, Neues Tor, Spandauer Tor, Leipziger Tor und das Köpenicker Tor; hinzu kamen das Hamburger Tor, Rosenthaler Tor, Schönhauser Tor, Prenzlauer Tor, Cottbusser Tor, Frankfurter Tor, Schlesisches Tor, Wasser-Tor, Königsstor, Landsberger Tor, Anhalter Tor und das Brandenburger Tor, welches als einziges Bauwerk erhalten blieb.

Der schlichte Bau, der am Ende der prächtigsten Straße, Unter den Linden, gelegen war, genügte den Ansprüchen einer königlichen Residenz bald nicht mehr. Carl Gotthard Langhans (1732-1808) erbaute das Stadttor 1788 bis 1791 als frühklassizistischen Natursteinbau aus Elbsandstein nach dem Vorbild der Propyläen (Eingangshalle) der Athener Akropolis neu.

Das Tor besteht aus 12 Säulen, die mit Querwänden verbunden sind. Neben dem Tor sind zwei Torhäuser in Form antiker Tempel gestaltet. In ihnen befand sich im linken Gebäude die Wache und im rechten die Akziseverwaltung sowie einige Beamtenwohnungen.

Die meisten bauplastischen Elemente (Reliefs und Skulpturen) des Brandenburger Tores, das dem Frieden geweiht wurde, gehen auf Entwürfe Johann Gottfried Schadows (1764-1850) zurück. Die sich auf der Attika des Tores befindliche Quadriga zeigt die geflügelte Siegesgöttin Nike bzw. Viktoria, die einen Stab mit Kranz, Eisernem Kreuz und Adler hält. Der erreichte Frieden als Resultat einer langen Auseinandersetzung wurde als Sieg des Staates und seiner geistigen Grundlagen interpretiert.

Im Zweiten Weltkrieg wurde das Gebäude sowie die Quadriga mit ihrem Figurenpersonal sehr stark zerstört. Erst 1951 bis 1957 erfolgte der Wiederaufbau des Torgebäudes, 1958 wurde eine neue Quadriga aufgestellt. Mit dem Bau der Berliner Mauer 1961 befand sich das ehemalige Stadttor im Sperrgebiet. Seit dem 22. Dezember 1989 ist das Brandenburger Tor wieder geöffnet.

Der hier gezeigte Bildteppich stammt aus dem Jahr 1955, der Wiederaufbau des Brandenburger Tores war noch nicht ganz abgeschlossen, wovon Fritz Griebel dem Betrachter jedoch nichts mitteilt. Und dennoch gelingt es ihm, eine Atmosphäre der Zerstörung und des Aufbaus im Nachkriegsdeutschland zu veranschaulichen. Welche künstlerischen Mittel setzte er hierfür ein?

Auffällig ist die begrenzte Farbwahl. Blau- und Grautöne wechseln sich mit hellen Brauntönen, Schwarz, Gelb und Rot ab. Wie so häufig im Werk Fritz Griebels zu beobachten, erzielt er mit minimalen Farben maximale Farbabstufungen, die einen harmonischen Farbklang im Auge des Betrachters bewirken.

Doch die Harmonie der Farbklänge wird durch die streng umrissenen Farbflächen, deren Überschichtungen Gegenstandsabbildungen erzeugen, gestört. Der Bildteppich wirkt unruhig, eine Identifizierung des Dargestellten ist auf den ersten Blick schwierig.

Fritz Griebel setzte in dieser Tapisserie die Errungenschaften des Kubismus um. Diese avantgardistische Kunstströmung wurde vornehmlich zu Beginn von Pablo Picasso (1881-1973) und Juan Gris (1887-1927) getragen. Entscheidende Grundlagen wurden zwischen 1907 und 1909 von ihnen wechselseitig entwickelt. Ausgangspunkt ist die Zerlegung bzw. Schematisierung gegenständlicher Darstellungen in stereometrische, abstrakte Formen bei Verzicht auf Gesetze der Perspektive.

Diese Zersplitterung der Gegenstände oder Personen bewirkt jedoch, die Erfassung mehrerer Seiten des Darzustellenden simultan zu veranschaulichen, wie dies Fritz Griebel besonders bei den Häusern bzw. Trümmern in der unteren Bildzone anwendete, aber auch das linke Torhaus zeigt uns Griebel in Vorder- und Seitenansicht. Das begonnene Facettensystem setzt sich bruchlos im Hintergrund fort, der im eigentlichen Sinn kein Hintergrund mehr ist, sondern eine Fläche mit dem Darzustellenden bildet.

Pariser Platz mit Brandenburger Tor. Ansicht 2005. Foto: Axel Mauruszat.

Die seitlich an den beiden Torhäusern angrenzenden Gebäude verschränkte Griebel miteinander. Er suggeriert die Größe des Pariser Platzes, indem er das Brandenburger Tor fast schwebend in die Bildmitte platzierte, gleichzeitig aber auch rechts begrenzte durch das sich am Torhaus angrenzende Haus, welche zu den kleinen Häusern, die wie Trümmer wirken, hinleitet.

Auffallend sind die rot-weiss-gestreiften dreieckigen und trapezartigen Formen an dem rechten Gebäude. Sie erfüllen eher eine kompositorische als eine inhaltliche Aufgabe. So ist es für die Entschlüsselung des Bildteppichs nicht wichtig zu wissen, ob es sich hierbei um Fahnen oder Fenstermarkisen handelt, denn sie führen in das Bild ein. Sie lenken den Blick weiter auf das Berliner Landes- und Stadtwappen, das Griebel entgegen seiner Ikonografie mit einem hellroten vertikalen Balken versah.

Wappenschild des Landeswappens Berlin ohne Laubkrone.

Das sich auf der Quadriga befindliche Wappen zeugt von großer Ironie Fritz Griebels. Der große Berliner Bär erweckt den Eindruck, als ob er hinter dem Viergespann der Siegesgöttin liefe.

Der große Strauch in der unteren Bildzone, der aus den Trümmern erwachsen zu scheint, ist fast in die Bildmitte platziert und bildet eine verschobene Achse mit dem Schriftzug, des Tores und mit dem Wappen. Verhalten sind an den Ästen Blätter zu erkennen, ein weiterer Strauch ist rechts daneben. Die Pflanzen symbolisieren das Wachsen, so, wie die kriegszerstörten Städte wieder aufgebaut werden sollen.

Die drei unterschiedlich breiten, in Blautönen gehaltenen und vertikal verlaufenden Segmente durchziehen harmonisch das gesamte Bild. Sie und die in der oberen Zone zu entdeckenden Monde und Planeten visualisieren den Nachthimmel. Das Blau kontrastiert mit den an Sandstein erinnernde Brauntöne.

Es scheint, als ob Fritz Griebel an die Fertigstellung des Brandenburger Tores im Jahr 1791 erinnern wolle, die damals in Abwesenheit Friedrich Wilhelms II. und ohne Zeremonie stattfand.

Fritz Griebel vermittelt mit diesem Bildteppich unter Rückgriff auf kubistische Stilmittel einen einzigartigen Beitrag in der Genese der Tapisserie. In absolutistischer Zeit vorwiegend als Medium der Repräsentation genutzt, gelingt es Griebel mit diesem Bildteppich die Aufbruchsstimmung Deutschlands am Beispiel der geschichtsträchtigen Stadt Berlin einzufangen. Er schuf somit ein höchst repräsentatives Werk.

Antje Buchwald