Der Maler vorm Dorf

Fritz Griebel: Der Maler vorm Dorf. 1935, Rötel/Papier, 48 x 63 cm.

Diese Zeichnung zeigt eine Ansicht von Heroldsberg mit dem Künstler Fritz Griebel vor einer Staffelei stehend. Griebel verbrachte – bis auf wenige Unterbrechungen – sein ganzes Leben in der Markt Heroldsberg, nahe Nürnberg.

Eine Mauer mit Torbogen teilt das Bild in Vorder- und Hintergrund. So erblicken wir hinter der Mauer in dem Gebäude-Ensemble den Turm der St. Matthäus-Kirche sowie das Rote Schloss. Im Torbogen ist ein Leiterwagen zu erkennen; zwei Figuren – wahrscheinlich Mutter und Kind – sind gerade unter ihm durch gegangen. Sie sind ohne Gesichter gemalt und ihre Kleidung ist nur angedeutet. Sie tragen Gerätschaften für die Ernte.

Über den Figuren steht der Künstler vor der Staffelei. Ob er auf einer Leiter steht, ist nicht zu erkennen, vielmehr scheint er über ihren Köpfen zu schweben. Der Künstler hält einen Zeichenstift oder einen Malpinsel in der Hand. Auch diese Figur ist skizzenhaft gezeichnet. Sie blickt auf die Altstadt, um eine Ansicht auf die Leinwand zu bannen.

Die etwas diagonal verlaufende Mauer verleiht dem Bild eine ungewöhnliche Perspektive. Der Gebäudekomplex dahinter wirkt so unwirklich zusammengezogen. Das horizontal ausgerichtete Bild wird durch die Figuren samt Staffelei, Kirchturm und schräg verlaufendem Baum in Spannung versetzt. Die Schlagschatten dramatisieren die Szene.

Griebel setzt in dieser Zeichnung Stilmittel expressionistischer Malerei ein. Die künstlerische Bewegung des Expressionismus formierte sich in Deutschland besonders durch Künstlergruppen, wie die Brücke und den Blauen Reiter, seit etwa 1905 und muss im Kontext der Lebensreformbewegung gesehen werden. Der Expressionismus war eine geistige Haltung, die sich gegen den Impressionismus bzw. Naturalismus, gegen das Bürgertum, gegen Konventionen richtete.

In expressionistischen Bildern ist ein freier (spontaner) Umgang von Form Farbe charakteristisch sowie eine Reduzierung des Motivs auf markante Formelemente und eine Auflösung der traditionellen Perspektive. Die Bildsprache ist sinnlich und motivisch gesteigert. Das Bild sollte als gestaltetes Erlebnis den Betrachter durch eine gefühlte Raum-Flächen-Struktur, Körpersprache und Rhythmik unmittelbar berühren.

Ernst Ludwig Kirchner: Elisabethufer, 1913, Öl/Lwd., 83,5 x 94 cm, Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Slg. Moderne Kunst in der Pinakothek der Moderne (von Rufus46 – Eigenes Werk. Lizenziert unter Public domain über Wikimedia Commons).

Ernst Ludwig Kirchner (1880–1938), Gründungsmitglied der Brücke, malte wie zuvor in Dresden auch in Berlin Stadtlandschaften. Die ersten Bilder und Blätter entstanden seit dem Oktober 1912. Das Bild zeigt den heute zugeschütteten Luisenstädtischen Kanal mit Blick auf die zerstörte Melanchton- und die neue Garnisonskirche. In Kirchners Bild deuten sich bereits jene expressive Deformationen und räumliche Verdichtungen an, die später in Filmkulissen des expressionistischen Films charakteristisch werden sollten. In Griebels Stadtansicht sind es die Schlagschatten und die etwas verzerrte Raumstruktur, die an expressionistische Filme denken lassen.

Das Motiv des Selbstporträts eines Künstlers im Freien vor der Staffelei ist in der Geschichte der Kunst eher selten. Bevorzugt wird eine repräsentative Darstellung im Atelier. Griebel zeichnete sich zudem als Rückenfigur, so dass es sich streng genommen um irgendeinen Maler handeln könnte. Er selbst betitelte die Zeichnung und nennt sich selbst schlicht »den Maler«. Der Maler vor der Staffelei verleiht dem Bild zudem etwas Unwirkliches, da er entgegen der physikalischen Gesetze im Raum zu schweben scheint.

Griebel, der seit 1927 in Heroldsberg als freischaffender Künstler tätig war, malte Mitte 1930-Jahre einige naturalistische Stadtlandschaften seiner Heimatstadt. Diese Zeichnung kann als Studie, als Experiment gedeutet werden, in der er sich selbst beim Zeichnen seiner Umgebung festhielt. Die Zeichnung verdeutlicht in gewisser Weise den künstlerischen Prozess an sich sowie die künstlerische Wahrnehmung bzw. Phantasie.

Antje Buchwald 2014

 

Literatur: