Frauenkopf

Fritz Griebel: Frauenkopf. vermutlich 1930er-Jahre, kolorierte Rötelzeichnung, 63 x 48 cm.

Im Vordergrund der Zeichnung sehen wir den leicht nach rechts geneigten Kopf einer jungen Frau und den Ansatz der Büste. Ihr langes gewelltes Haar, das von einem Mittelscheitel geteilt wird, ist hinter ihr linkes Ohr gelegt und gibt einen Teil ihres Nackens frei. Ihr Gesicht ist ebenmäßig geformt. Akzentuiert setzte Fritz Griebel Schattenpartien auf dem Gesicht, welche ihm Plastizität verliehen.

Griebel lehnte die weibliche Figur an Merkmale hellenistischer Kunst an. Eines der bekanntesten Werke aus dieser Epoche ist die »Venus von Milo«, die mit der Frisur, dem Streben nach Realismus und der Kopfhaltung Ähnlichkeiten mit Griebels Frauenkopf aufweist. Doch während die Skulptur ein in der Ferne liegendes Ziel zu betrachten scheint, ›blickt‹ Griebels Figur mit ihren hellblauen Augen ohne Pupillen traumversunken in die Weite.

Drei Grazien, hellenistisch, römische Kopie (2. Jh. ?), restauriert und ergänzt von Nicolas Cordier 1609, Louvre, Paris.

Die traumhafte Atmosphäre setzt sich in der Perspektive fort. Der Horizont teilt das Bild in eine große Himmelszone und eine kleine Meer- und Erdzone. Das türkisfarbene Wasser, das von rot-braunen Sandbänken durchzogen ist, suggeriert Weite. Rechts und links neben der jungen Frau stehen und sitzen drei nackte Frauen. Ihre Körperhaltungen als Rücken- und Frontalfiguren erinnern an die Göttinnen der Anmut aus der griechischen Mythologie – die »Drei Grazien«.

In der weiten Himmelszone sind zwei von Wolken umgebene Engel damit beschäftigt, einen Kranz auf den Kopf der jungen Frau zu legen. Die Arbeit scheint ihnen nicht leicht von der Hand zu gehen, müssen sie doch schieben und stemmen, um den ohnehin zu kleinen Kranz richtig zu positionieren.

Engel sind Boten und Gesandte. Von Göttern bestellt, vermitteln sie den Menschen deren Botschaften oder stehen ihnen als Schutzgeister bei, erscheinen aber auch als Vorboten des Todes. Diese überirdischen Wesen sind in den Mythen und Religionen aller vor- und außerantiken Kulturen sowie im griechisch-römischem Bereich als Gottheiten bzw. Personifikationen verbreitet.

Raffeal: Sixtinische Madonna (Detail), 1512/13, Öl/Lwd., 256 x 196 cm, Gemäldegalerie Alte Meister, Dresden.

In der Antike sind Engel als Mittler zwischen Gott und Mensch jedoch unbekannt. Die Götter selbst greifen in das Leben des Menschen ein oder senden den Götterboten Hermes mit seinem Flügelhelm. Kranzhaltende Engel tauchen in der Antike als Niken auf. Eine Nike ist eine griechische Gottheit, die den Sieg personifiziert. Sie bringt den Menschen von den Göttern im feindlichen Krieg oder friedlichem Wettkampf den Sieg. In der griechischen Kunst ist Nike eine weibliche Gestalt mit Flügeln. Zu ihren wichtigsten Attributen zählen Kerykeion (Hermesstab), Kranz, Tänie als Siegerbinde, Kanne und Opfergeräte.

Antike Nike aus Gold, Cabinet des Médailles, Paris.

Die Engel in unserer Zeichnung sind allerdings flügellos und männliche Kinder. Sie sind ikonographisch eher den antiken Amoretten bzw. den neuzeitlichen Putti zuzuordnen. Amoretten bzw. Eroten sind in der griechischen Mythologie Söhne und Begleiter der Aphrodite, die meist scharenweise auftreten. Seit dem 5. Jahrhundert v. Chr. sind sie belegt. Seit der hellenistisch-römischen Zeit werden sie als verspielte Knäblein dargestellt, deren zierlich niedliche Gestalt und drolliges Gehabe im Gegensatz zu ihren aus dem Alltag gegriffenen oder kurios erfundenen Handlungen stehen. Die Amoretten spielen in der sonst figurenarmen Dekoration hellenistischer Keramik eine besondere Rolle.

In der italienischen Frührenaissance bis zum 18. Jahrhundert entwickelte sich aus den antiken Amoretten die Putti: Kinder mit prallen Rundungen, Pausbacken, Speckfalten an Armen und Beinen, mit oder ohne Flügel, in den Lüften schwebend, auf Wolken oder Architekturen lagernd.

Chirico: Love Song, 1914, Öl/Lwd., Museum of Modern Art, New York.

Griebels Zeichnung ist demnach reich an ikonographischen Bezügen. Und doch lässt sie uns mit einem Rätsel zurück. Der Künstler bedient sich aus dem Repertoire der Kunstgeschichte. Doch eindeutige Zeichen liefert er uns nicht. Sehen wir in den Traum der jungen Frau, der ein Siegeskranz verliehen? Denn sie ist blind, ihr Blick ist wie im Schlaf nach innen gerichtet. Oder handelt es sich um den Kopf einer Skulptur? Erst unter Kaiser Hadrian (76–138) versahen antike Bildhauer Augen mit Pupillen durch Bohrlöcher. Dann hätte Fritz Griebel eine surreale Huldigung an die Antike gezeichnet. Insbesondere die Offenheit des Bildes, seine Rätselhaftigkeit weisen Fritz Griebel als einen modernen Künstler aus. Entfernt ist Griebles Zeichnung mit der Metaphysischen Malerei von Giorgio de Chirico (1888–1978) zu vergleichen, der traumähnliche Situationen vor einer streng architektonischen Kulissenwelt mit zum Teil antiken Skulpturen schuf.

Antje Buchwald 2013

 

Literatur:

  • Wilfried Hansmann: Putten. Worms 2010.
  • LCI. Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 2