Griechisches Stillleben

Fritz Griebel: Griechisches Stillleben, 1934, Rötel, Pastellkreide/Papier, 48 x 63 cm

Vier Objekte sind auf einer rechteckigen Fläche verteilt. Sie bilden jeweils Zweiergruppen: Eine Amphora, vor der ein weibliches Idol steht sowie ein hellenistischer Einsatzkopf mit Diadem, vor dem eine Amphora mit einem Auge steht. Eine Birne und ein Apfel schweben am linken Bildrand und Blätter zwischen Amphora und Kopf; sie verbinden beide Bildsegmente miteinander.

Henri Matisse: Griechischer Torso mit Blumenstrauß, 1919, Öl/Lwd., 116 x 89 cm, Museu de Arte, São Paulo

Fritz Griebel betitelte seine Rötelzeichnung mit »Griechisches Stillleben«. Die Antike war seit Mitte der 1920er-Jahre sein Thema, die er bildsprachlich innovativ umsetzte. Die Antike durchzieht sein gesamtes Werk – in Ölmalerei, Zeichnung, Scherenschnitt, Tapisserie und angewandter Kunst. Sie war für Griebel ein Zufluchtsort. Hier leben Mensch und Tier friedvoll in einer unberührten Natur. Hier wird aber auch das Sexuelle betont, werden Geschlechterrollen aufgezeigt und hinterfragt.

Die Rückbesinnung auf die Antike als künstlerisches Thema ist besonders nach den beiden Weltkriegen zu beobachten. Die internationale Avantgardebewegung des Neuen Klassizismus (ca. 1910–1930) formierte sich während des Ersten Weltkrieges in Frankreich und Italien und breitete sich nach Kriegsende rasch aus, so dass in England und Deutschland Parallelbewegungen entstanden. Führende europäische Künstler wie Pablo Picasso (1881–1973), Henri Matisse (1869–1954) oder Aristide Maillol (1861–1944) bedienten sich des antiken Erbes.

Pablo Picasso: Die Panflöte, 1923, Öl/Lwd., 205 x 174,5 cm, Musée Picasso Paris (Quelle: wikipedia.org)

Sie verband das Prinzip der stilistischen Synthese, d.h. dem Ausgleich von Stilisierung und Naturbeobachtung sowie dem Ausdruck von Harmonie. Kennzeichen, die sich im Werk Griebels wiederfinden. Archäologische Ausgrabungen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert lenkten zudem das Interesse auf frühe Formen antiker Kunst wie die der etruskischen (8./7.–1. Jh. v. Chr.). Die Antike wurde zu einem Ideal. Sie fungierte als eine Kontemplation einer höheren, reineren und perfekteren Realität. Speziell der antike Mythos rückte nach dem Zweiten Weltkrieg als Thema in den Fokus deutscher Nachkriegskunst.

Griebels Linienführung ist klar und reduziert, keine Schnörkel lenken vom Bildgeschehen ab. Akzentuiert werden die Rötellinien mit grüner und hellblauer Kreide. Die grünen Farbflächen beleben die weißen. Es dominiert jedoch die rote Farbe des Rötels, der den Schattenwurf mit breiten Flächen einfängt. Rot ist die Farbe des Blutes, »geheimnisvoll in den Bindungen an Leben und Tod, zu Überwelt und göttlicher Kraft. Die Farbe, die in dieser Weise symbolhaft Sein und Seiendes umfaßt.« Der Gebrauch roter Erden ist eines der frühesten Ausdrucksmittel des Menschen überhaupt. Er findet sich in den Umrisszeichnungen der Höhlen in Lascaux, Pech-Merle oder Altamira.

Weibliches Psy-Idol, mykenisch, 13. Jh. v. Chr., Ton, gefasst, 11,4 x 5,8 cm. Kunsthistorisches Museum Wien, Antikenslg., Inv.-Nr. ANSA_V_3254

Griebel nutzte jegliches Formmaterial antiker Kunst, beginnend mit dem Frühgeometrischen Stil (900–825 v. Chr.), über die Früharchaik (700–620 v. Chr.) bis zum hohen Hellenismus (230–150 v. Chr.), um seine Bildidee assoziativ umzusetzen. Es bestand für ihn wie für die Vertreter des Neuen Klassizismus kein Widerspruch zwischen der griechischen Archaik und dem Ideal der Klassik. So ist es zu erklären, dass Griebel einen hellenistischen Einsatzkopf zusammen mit einem prähistorischen Idol auf die Bildfläche zeichnete.

Als Idole werden in der Archäologie zum einen Bildwerke und Kultbilder für religiöse Zwecke definiert. Zum anderen aber mehrheitlich abstrakt anthropomorphe, überwiegend kleine Figuren definiert, die man nicht näher bezeichnen kann. Sie können aus Stein, Bronze, Elfenbein, Ton oder Holz geformt sein. Keineswegs handelt es bei den Idolen immer um Darstellungen von Göttern, wie man lange Zeit glaubte. Ihre Funktion lässt sich meist über ihren Fundort (Gräber, Häuser, Heiligtümer) erklären. Idolen wurden magische oder apotropäische Kräfte zugeschrieben, sie besaßen Schutzfunktionen oder spielten eine Rolle bei Initiationsriten.

Rückseite der Zeichnung mit Aufkleber »Galerie Nierendorf«

Auch das Auge auf der Amphora kann als ein Apotropaion, als ein Bild zum Schutz gegen böse Kräfte, gedeutet werden. Es ist damit ein das Böse abwehrende Auge. Der Farbe Rot wurde in der Ur- und Frühzeit ebenfalls eine apotropäische Bedeutung zuerkannt: So genannte primitive Naturvölker schreckten ihre Feinde durch rote Körperbemalungen ab.

Diese Zeichnung und andere Arbeiten stellte Griebel in der traditionsreichen Galerie Nierendorf in Berlin aus. Gegründet 1920 von den Brüdern Karl (1889–1947) und Josef (1898–1949) Nierendorf in Köln prägten sie schnell die Berliner und ab 1936 auch New Yorker Kunsthandelsszene. Die Galerie Nierendorf ist heute die älteste und bedeutendste Galerie Berlins für den Expressionismus und der Neuen Sachlichkeit. Künstler wie Otto Dix (1891–1969), Erich Heckel (1883–1970), Emil Nolde (1867–1956), Karl Schmidt-Rottluff (1884–1976), Karl Blossfeldt (1865–1932) oder Ernst Thomas (1896–1983) standen zeitweise bei Nierendorf unter Vertrag.

Karl Nierendorf, 1920er-Jahre (Quelle: Anja Walter-Ris, unpag.)

Nach der so genannten »Machtergreifung« Hitlers 1933 schrieb Karl Nierendorf: »Hitler ist Reichskanzler! Seine erste Rede hörte ich im Radio. Eine Stimme, die vergewaltigt, und ein Ton, der vor nichts zurückschreckt. Auch nicht vor dem unglaublichsten Vorwurf gegenüber allen vorherigen Regierungen, auch nicht vor der Anrufung des ›Allerhöchsten‹ und vor jeder Phrase. Ich habe eine Art Grippe und ich bin ziemlich matt. Dazu kein Geld und durch die politischen Veränderungen auch keine Aussicht auf Verkäufe. Alles ist so deprimierend und fürchterlich […].«

Nierendorfs Leben war fortan von Geldsorgen und politischen Einschränkungen geprägt. Doch hielt er auch weiterhin an der Unterstützung seiner Künstler fest. Von 1933 bis einschließlich 1934 präsentierte die Galerie an die dreißig Ausstellungen. Neben der Galerie Nierendorf blieben von den größeren und bekannteren Galerien nur die Galerien Ferdinand Möller (1882–1956), Karl Buchholz (1901–1992), bei dem Griebel auch ausstellte, Wolfgang Gurlitt (1888–1965) und Otto von der Heyde (1882–1976) als Ausstellungsforen für die Moderne übrig. Nach 1938 zog sich Karl Nierendorf mehr ins Private zurück.

Fritz Griebels Griechisches Stillleben ist keine Katharsis einer kriegszerstörten Kunst und Kultur. Es ist im Gegenteil ein Bild mit Appellcharakter: Es warnt vor dem nationalsozialistischen Gedankengut. Es möchte den »Bösen Blick« abwenden. Es wirkt prophetisch in dem Sinn, als dass die Antike als Folie für einen Humanismus fungiert, der zunehmend von der NS-Diktatur unterdrückt wurde. Griebels Stillleben, in dem die grünen Blätter und Birne auf Hoffnung und Leben hindeuten, ist ein Schutzmantel für seine Betrachter – ein modernes Apotropaion.

 

Antje Buchwald 2017

 

Literatur:

  • Antje Buchwald: Fritz Griebel. Künstler, Lehrer und Direktor der Akademie der Bildenden Künste Nürnberg nach 1945. Dettelbach 2017.
  • Walter Koschatzky: Die Kunst der Zeichnung. Technik, Geschichte, Meisterwerke. München 2003, Zitat S. 96.
  • Anja Walter-Ris: Die Geschichte der Galerie Nierendorf. Kunstleidenschaft im Dienst der Moderne. Berlin/New York 1920–1995, Zitat S. 191. (PDF-Link)