In den 1930er-Jahren fertigte Griebel eine Vielzahl von surrealen Rötel- und Kreidezeichnungen an, die er auch in der renommierten Galerie Nierendorf in Berlin ausstellte, wie dieses Werk des Monats. Die Galerie Nierendorf ist heute die älteste und bedeutendste Galerie Berlins für Expressionismus und Neue Sachlichkeit. Künstler wie Otto Dix (1891–1969), Erich Heckel (1883–1970), Emil Nolde (1867–1956), Karl Schmidt-Rottluff (1884–1976), Karl Blossfeldt (1865–1932) oder Ernst Thomas (1896–1983) standen zeitweise bei den Brüdern Karl (1898–1947) und Josef (1898–1949) Nierendorf unter Vertrag.
Die von Griebel datierte, signierte und betitelte Zeichnung zeigt ein Kopfbild eines jungen Mannes im Dreiviertelprofil. Der Kopf ist nach links geneigt, sodass die rechte Gesichtshälfte verschattet ist. Die Gesichtszüge sind markant und ebenmäßig. Die großen Augen blicken nach rechts in die Ferne. Der Mund mit seinen vollen Lippen ist geschlossen und verleiht dem Gesicht eine gewisse Ernsthaftigkeit und Entschlossenheit. Der Hals ist muskulös, zeichnen sich doch deutlich Sehnen ab. Das dichte, kurze Haar ist über dem Ohr wegschnitten. Es liegt direkt auf dem vasenförmigen Gefäß auf, das sich dicht an den Kopf des Jünglings schmiegt. Die Helix, der wulstartig verdickte Rand der Ohrmuschel, fungiert ebenso als Henkel des Gefäßes.
Zwei nackte, junge Frauen schweben hinter dem Jünglingskopf – oder entsteigen sie etwa diesem? Ihre Gesichter sind schemenhaft, der Betrachterblick wird auf ihre wohlgeformten Körper gelenkt. Ihre Oberkörper gehen in eine unbestimmte, dunkle Fläche über, die hinter der Vase auftaucht.
Es ist eine sexuelle Fantasie, die Fritz Griebel zeichnete. In der Vase – keine Nachbildung griechischer Fein- und Gebrauchskeramik, sondern eine Schöpfung Griebels – könnte man die Vereinigung von Mann und Frau symbolisiert sehen.
Antje Buchwald 2020