Berliner Atelier

Fritz Griebel: Berliner Atelier, 1922, Öl/Karton, 21 x 18 cm.

Wir befinden uns in einem Raum. Wir blicken aus dem geöffneten Fenster; die doppelten Fenstertüren ragen in den Raum hinein. Wir erblicken die gegenüberliegende Hausfront: zwei geschlossene Fenster, daneben ein grüner Erker; die Fassadengliederung lässt auf ein Gründerhaus schließen. Das Licht wird von der beigefarbenen Hausfront reflektiert: Es ist Sommer. Wir treten zurück und schauen uns im Zimmer um: Uns fällt die Topfpflanze auf der breiten Fensterbank auf. Unter ihr steht auf Dielen eine hölzerner Kommode, auf der Papier und Bücher liegen; ein Thonet-Stuhl steht seitlich davor, wahrscheinlich wurde er vom Tisch, der mit einer gelben Tischdecke drapiert ist, weggeschoben; und vor dem Stuhl steht ein Bett mit weißer Bettwäsche. Jetzt sehen wir auch, dass die Gardine weggezogen wurde. Wir befinden uns im Berliner Atelier von Fritz Griebel.

Adolph Menzel: Das Balkonzimmer, 1845, Öl/Pappe, 58 x 47 cm, Alte Nationalgalerie, Berlin.

Das kleine Bild entstand während seines ersten Jahres an der Berliner Kunstakademie. Thema und Malstil sind deutlich dem 19. Jahrhundert verpflichtet. Besonders die Interieurdarstellungen Adolph Menzels (1815–1905) sind hier zu erwähnen. Menzel malte mit Vorliebe menschenleere Innenräume, die er – wie Griebel wohl auch – als private, inoffizielle Werke ansah und sie erst sehr viel später ausstellte; teilweise wurden sie erst nach Menzels Tod der Öffentlichkeit bekannt. Seine Frühwerke werden gern als »vorimpressionistisch« bezeichnet, was mit dem Verzicht auf Handlung, die farbige Darstellung des Lichts und den Eindruck des Momentanen, Flüchtigen erklärt wird.

Das Festhalten eines Augenblicks und die Vermittlung der Stimmung in diesem Augenblick ist auch Fritz Griebels Thema hier. Er erreicht dies durch Anschneiden des Bildraumes. Wir sehen nur einen Teil von der Einrichtung: Tisch, Bett, Stuhl und Fenster sind an den Bildseiten beschnitten. Mit diesem Stilmittel, der mit dem Impressionismus aufkam, suggeriert der Kunststudent Flüchtigkeit, die er wie mit einer Kameralinse festhält – ein Schnappschuss.

Griebels Blick aus dem Fenster, das ein Bild im Bild ist, zeigt die Lichtreflexionen auf der gegenüberliegenden Hauswand. Sie spiegelt sich auf der Sitzfläche des Stuhles. Die Aussenwelt dringt in die Innenwelt ein.

Seit der Renaissance wurde das Bild als Fenster aufgefasst. Unter Verwendung der Perspektive malten die Künstler die Welt wie durch ein Fenster gesehen. In der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts entwickelte sich das Fenster- und Genrebild zu einen eigenen Bildtypus. Das Fenstermotiv hat fortan immer auch mit der Reflexion über die Malerei selbst zu tun. Es geht um den Blick auf die Welt, die seit dem frühen 20. Jahrhundert Künstler zu immer neuen Fragestellungen in allen erdenklichen Medien provoziert.

Antje Buchwald

 

Literatur:

  • Einblicke – Ausblicke. Fensterbilder von der Romantik bis heute. Ausst.-Städtische Kunsthalle Recklinghausen. Recklinghausen 1976.
  • Fresh Window. Fenster-Bilder seit Matisse und Duchamp. Ausst.-Kat. Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen. Düsseldorf 2012.

 

Antje Buchwald