Menschenpaar

Fritz Griebel: Menschenpaar, um 1940, Öl/Leinwand, 130 x 100 cm.

“Kunst ist Vereinigung von väterlicher und mütterlicher Welt, von Geist und Blut; sie kann im Sinnlichen beginnen und ins Abstrakteste führen, oder kann in einer reinen Ideenwelt ihren Anfang nehmen und im blutigsten Fleische enden. Alle Kunstwerke, die nicht nur gute Gauklerstücke sind, haben dies gefährlich lächelnde Doppelgesicht, dieses Mann-weibliche. Dieses Beieinander von Triebhaftem und reiner Geistigkeit.”
Hermann Hesse

Vor einem grauen Hintergrund heben sich eine männliche und weibliche Aktfigur deutlich hervor. Frontal treten sie uns gegenüber. Der dunklere männliche Akt hat seine Arme vor der Brust verschränkt. Sein Körper ist leicht nach links ausschreitend gedreht, dem weiblichen, hellhäutigen Akt zugewandt, der seine Arme hinter dem Rücken verschränkt hält. Im Bereich des Kopfes schweben Monde und Sonnen. Zwischen beiden Akten liegt ein antikisierendes Gefäß, aus dem sich grüne Früchte ergießen sowie im Bereich des Oberschenkels der weiblichen Aktfigur.

Albrecht Dürer: Adam und Eva, 1507, Öl/Holz, 209 x 81, 209 x 83 cm, Prado, Madrid.

Nacktheit, Frontalität und die Anordnung der Figuren zueinander – die Frau steht zur Linken des Mannes –, sind ikonographisch mit dem Thema Adam und Eva vergleichbar. Während Fritz Griebel uns das Menschenpaar in voller Nacktheit zeigt, bedecken Adam und Eva ihre Scham auf den Tafeln Albrecht Dürers (1471-1528), die als erste autonome Nacktdarstellungen nördlich der Alpen angesehen werden. Das Paar hat bereits die Früchte vom Baum der Erkenntnis genascht; Scham und Sterblichkeit treten in die Welt.

Zeigt uns hier Fritz Griebel eine moderne Variante von Adam und Eva im Paradies? Schauen wir uns das Bild weiter an. Hinterfangen wird der männliche Akt von einem hellblauen Rechteck, das als Fenster einen Ausblick ins Freie suggeriert. Dem Akt ist eine Figur im Bereich des Oberkörpers angehängt. Diese Figur weist eine noch hellere Hautfarbe auf, als die des weiblichen Aktes. Geschlechtsmerkmale beiden Geschlechts vereinigend, ist diese Figur als Androgynos bzw. als Hermaphroditos zu definieren.

In fast allen Volks- und Stammesreligionen dieser Erde wie auch in den Religionen der alten Hochkulturen lassen sich androgyne Züge erkennen. Dabei ist die Vorstellung verbreitet, dass die Geschlechterteilung nicht von Anfang bestanden habe, sondern einen Spätzustand des Menschseins darstellt. In Platons „Symposium“ („Gastmahl“) wird von drei gottähnlichen Geschlechtern berichtet: männlich, weiblich und mannweiblich. Sie waren kugelrunde Doppelwesen mit Januskopf, vier Armen und Beinen und zwei Geschlechtsteilen. Da die drei Geschlechter jeweils zwei sexuelle Kräfte in sich vereinen, sind sie alle, also auch die Kombinationen gleicher Geschlechtsteile, als zweigeschlechtig zu klassifizieren. Die Doppelmänner stammten von der Sonne, die Doppelweiber von der Erde und die Mannweiber vom Mond ab. Um die drohende Konkurrenz der Kugelmenschen abzuwehren, zerschnitten die Götter sie in zwei Hälften. Seitdem gehen die beiden Teile getrennt aufrecht auf zwei Beinen und haben Sehnsucht danach, sich mit dem jeweils anderen Teil wieder zu vereinen. Dieser Drang der zwei Hälften, sich zu vereinen, wird als Liebe („erôs“) bezeichnet.

Ovid berichtet in seinen „Metamorphosen“ von der Geschichte des Hermaphroditos. Als Sohn von Hermes und Aphrodite wuchs er durch die Verbindung mit der Quellnymphe Salmacis zu einer doppelgeschlechtlichen Gestalt heran. Wie in dem Mythos über die Kugelmenschen entsteht auch hier der Androgyn-Hermaphrodit aus der Sehnsucht nach Liebe.

Die blauen Kreisformen, welche Griebel über das nicht vorhandene Gesicht des Androgynos malte, wirken wie Gedankenblasen des männlichen Aktes. Zwischen beiden Figuren besteht ein starker Bezugspunkt. Griebels Bildsprache lehnt sich hierbei an die griechische Kultur an, welche der männlichen Sexualität den Vorrang gab. Sie findet sich auch in dem Mythos der Kugelmenschen in Platons „Symposium“ wieder. In der Kunst wird der Androgyn selten ausgeglichen dargestellt, häufig erscheint er wie bei Griebel als effeminierter Mann, seltener als vermännlichte Frau.

Stilistisch ist das Bild von Fernand Léger (1881-1955) inspiriert. Dieser, beeinflusst vom analytischen Kubismus, entwickelte einen von Maschinenformen ausgehenden grossflächigen Stil mit breiter Konturierung und leuchtendem Kolorit. In dem Bild Le petit déjeuner (das Frühstück) knüpfen die teilnahmslosen Odalisken an die klassische Tradition an. Das Bild vermittelt den Eindruck von Kühle. Durch die Betonung einzelner Körperteile, die den anatomischen Elementen das gleiche Gewicht verleiht wie den abstrakten Motiven und den Stillleben-Objekten daneben, evozieren eine indifferente Monumentalisierung. Die plastische Intensität einer Kniescheibe, einer Augenbraue oder einer Tasse gehen auf Experimente mit dem Film („Le Ballet mécanique“) zurück.

Fritz Griebel: Männlicher Akt.

Während explizit anatomische Details wie Brust und Kniescheibe, aber auch Gesicht und Frisur des weiblichen Aktes von Léger inspiriert sind, so scheint der männliche Akt Griebels Schnittbildern entlehnt zu sein. Insgesamt betrachtet zeichnet sich Griebels Bild durch eine unterschwellige Erotik aus, die sich nicht zuletzt in den Gefäßen als Metaphern für Genitalien ausdrückt. Das Bild wirkt wie ein festgehaltener Traum, in dem sich die Suche nach Ganzheit, nach psychischer Einheit der Geschlechter manifestiert. Der Surrealismus setzte sich am stärksten mit dem Thema des Androgynen auseinander und rückte den Fokus auf die Mann-Frau-Beziehung. Der Androgyn erscheint hier gelegentlich als die ganz konkrete, wenn auch geistig überhöhte, Vereinigung von Mann und Frau im Liebesakt, der bei Griebel subtil dargestellt ist.

Fritz Griebel: Menschenpaar, 1949, Gobelin, 224 cm x 132 bis 140 cm, German. Nationalmuseum Nürnberg, Inv. Nr. Gew 4956
Entwurf: Fritz Griebel, Ausführung: Nürnberger Gobelin-Manufaktur GmbH, Ellingen, Weberin: Gudrun Dünnebier
Abb. aus: Anzeiger des Germ. Nationalmuseums Nürnberg (1996), S.225.

Das Wesen des Androgynen ist Zweiheit in der Einheit und Ruhe, aber auch das Vermischte und Spannung. Das große Verdienst des Analytikers C. G. Jungs (1865-1961) war es, Anteile des Männlichen (Animus) in der Frau oder des Weiblichen (Anima) im Manne zu erkennen. Diese Gegengeschlechtliche Instanzen der eigenen Psyche, der Animus der Frau und die Anima des Mannes, spielen eine große Rolle bei der Erfahrung des anderen Geschlechts. Die Archetypen (Urbilder) Animus und Anima vermitteln zwischen Bewusstsein und Unbewusstem. So zeigt uns Fritz Griebel mit dem Archetypus des Androgynen keinen Kampf der Geschlechter, sondern ihre Einheit.

Himmel und Erde, Licht und Finsternis, Sonne und Mond werden als männlich und weiblich empfunden, zugleich aber auch als Symbole einer großen kosmischen Ganzheit, die durch ihre Spaltung in das aktive Männliche und das passive Weibliche zeigend weiter existiert. Durch Griebels archetypische Chiffrierung des Sichtbaren gelingt es ihm in diesem Bild eine außerordentliche Symbolsprache zu entwickeln. Er entwirft ein Bild des inneren Paares, als eine Vision von Liebe und geht damit über das Thema Adam und Eva weit hinaus, gewissermaßen vor dem Anfang des Anfangs.

Jahre später setzte sich Griebel nochmals mit dem Thema auseinander. Für die Nürnberger Gobelin Manufaktur fertigte er den Entwurf für einen Halbgobelin an, dem er den Titel „Menschenpaar“ gab. Nicht nur die Farbgebung differiert vom Gemälde, sondern es fehlt auch die Figur des Androgynus. Hiermit reduzierte er die bildliche Aussage auf eine traditionelle Darstellung der Geschlechter, ohne ihre mythischen Verweise.

Antje Buchwald