Drei Jahre nach der so genannten Machtergreifung der NSDAP malte Griebel seine Stadtansicht von Nürnberg. Sie zeigt die sich am Nordrand der Altstadt über die roten Ziegeldächer erhebende Kaiserburg, das Wahrzeichen Nürnbergs. Die Nürnberger Burg, eine Doppelburg aus Kaiserburg und Burggrafenburg, wurde während des Zweiten Weltkriegs stark zerstört. Sie gehört in ihrem historischen Charakter als Wehrbau und Kaiserresidenz, Reichsburg und hohenzollerischer Burggrafensitz zu den historisch und baukünstlerischen bedeutendsten Wehranlagen Europas. Darüber hinaus ist sie eines der bedeutendsten Kunst- und Baudenkmäler Nürnbergs und gehört zur Historischen Meile der Stadt.
Griebel selbst betitelte seine Stadtansicht „Blick vom Hallertor zur Burg“. Stadtansichten bzw. Veduten (ital. „Ansicht“) gehören zur Landschaftskunst und geben im Prinzip sachlich strenge und wirklichkeitsgetreue Porträts einer Stadt wieder. Ist die Sachlichkeit zwar oberstes Gestaltungsprinzip, sind jedoch Übergänge zum Capriccio und „paysage composé“ fließend.
Als älteste naturgetreue Darstellung städte- und landeskundlicher Art gelten die 1486 entstandenen Holzschnitte Erhard Reuwichs (um 1450–vermutlich vor 1506) zu Bernhard von Breydenbachs (1440–1497) Bericht Peregrinatio in terram sanctam über ihre Pilgerfahrt nach Jerusalem. Er war vorbildhaft für die Scheldesche Weltchronik, die erstmals 1493 in Nürnberg erschien. Lange stehen dabei noch die Wiedergaben des irrealen Vorbildes und Fantasiedarstellungen nebeneinander oder durchdringen sich sogar. Welt-, Länder- und Stadtchroniken sowie eigene Städtebücher wie von Matthäus Merian (1593–1650) erfreuten sich seit dem 15. Jahrhundert großer Beliebtheit, wobei die Schedelsche Weltchronik bis ins 18. Jahrhundert in der Darstellung vorbildlich blieb.
Doch erst im 17. Jahrhundert wird die reale Stadt zu einer Inspirationsquelle der Künstler, vor allem in den Niederlanden. Die Vedute, die eng mit dem sich in der Barockzeit entwickelnden Bildungstourismus zusammenhängt, löst sich seit dem 17. Jahrhundert von ihrer ursprünglichen Aufgabe einer erzählenden Beschreibung, die weder topografische, noch Authentizität in den Maßverhältnissen anstrebte. Die venezianischen Veduten verbinden topografische Genauigkeit mit einer Überhöhung und dem Einfangen einer jeweils bestimmenden Atmosphäre. Das gilt auch für die Romveduten des 17. und 18. Jahrhunderts, die sich ihrerseits mit der Ruinenlandschaft berühren.
Mit der Industrialisierung und Technisierung rückt die Stadtlandschaft und besonders das Bild der Großstadt nun in den Fokus der Künstler. Der Rhythmus des urbanen Lebens wird zusehends zur Sozialkritik. Georges Grosz (1893–1959) malte, geprägt von seiner persönlichen Kriegserfahrung, die Umwandlung der Stadt in eine riesige Metropole (Bild siehe hier). Die rasanten, ständigen Veränderungen versuchte er einzufangen, indem er kubistische und futuristische Elemente, eine sehr starre Perspektive und überlappende Figuren, um das rasende Tempo des Stadtlebens zu vermitteln, verwendete. Die Farbe Rot dominiert das Bild, das eine apokalyptische Vision ist, in der der Mensch sich von sich selbst entfremdet und in die Selbstzerstörung stürzt.
Griebels 20 Jahre später entstandene Stadtansicht vom alten Nürnberg ist dagegen wie ein Ruhepol, ein Rückzugsort für den Menschen, der traditionell der Natur bzw. der Landschaft vorbehalten ist. Spazieren zwar im Vordergrund Menschen in Winterkleidung auf der Hallertorbrücke, so wird fast die gesamte Bildfläche von den von der Stadtmauer eingesäumten historischen Bauten dominiert.
Die Nürnberger Burg liegt nördlich der Pegnitz auf einem Sandsteinrücken oberhalb der Sebalder Altstadt. Unterhalb ihr erstreckt sich die Altstadt und das Handwerkerviertel. Über dem langgestreckten Neutorgaben ragen die grau-grünen Türme der mittelalterlichen Kirche St. Sebald hervor, die älteste Pfarrkirche der Stadt.
Griebel malte seine Stadtansicht im Kalt-Warm-Kontrast: Das als warm empfundene Rot, Rotorange, Rotviolett und Gelb der Gebäude und Stadtmauer kontrastiert mit den als kalt empfundenen Farben Blau, Grün und Grau des Himmels, Teile der Mauer und Gebäude. Die Staffagefiguren auf der leicht mit Schnee bedeckten Hallertorbrücke beleben die stille Ansicht buchstäblich. Geschickt lenkt Griebel unseren Blick auf die zwei Figuren in Gelb und Rosa als einzige Farbtupfer in ihrer Umgebung. Durch den Kalt-Warm-Kontrast wirken die Gebäude freundlich und friedlich. Griebel hielt oder erschuf einen Moment der Innerlichkeit mit Blick auf die Nürnberger Altstadt in äußerst schwierigen politischen Zeiten fest. War für Grosz die Stadt als Metropole Symbol für Verelendung und Zerstörung, scheint Griebel mit seinem Nürnberg-Bild ein Bild der Einkehr schaffen zu wollen, als ahnte er die bevorstehende Katastrophe des Zweiten Weltkriegs.
Antje Buchwald
Kunsthistorikerin 2018