Stillleben mit Akten

Gritz Griebel: Stillleben mit Akten. 1930er Jahre, Öl/Leinwand, 100 x 80 cm

Mit diesem Bild nimmt uns Fritz Griebel mit auf die Reise in seine Welt der Antike. Es ist ein geheimnisvolles Bild, das wir uns im Folgenden näher betrachten wollen.

Vor einem grau-braunen Hintergrund erstreckt sich ein weiblicher Akt in Rottönen. Seine Körpergröße nimmt die gesamte Bildlänge ein. Der rechte Arm ist hinter dem Kopf gestreckt, der linke liegt eng am Körper an. Der Kopf ist leicht nach rechts gewendet. Neben dem Akt ist ein männlicher Akt als Fragment frontal in Orangentönen zu sehen. Er wiederholt fast die Haltung der Arme: sein rechter liegt angewinkelt auf seinem Bauch, der linke Arm liegt locker am Körper. In Höhe des Kopfes schweben zwei Planeten, die man als Sonne und mit seinen Ringen als Saturn identifizieren könnte. Unterhalb der Sonne taucht ein dunkelroter Porträtkopf auf, dessen Größe an eine Kolossalstatue erinnert.

Eine Art Welle verläuft unter dem Porträtkopf und dem Unterleib des männlichen Aktes. Sie unterteilt die Bildfläche in zwei Ebenen. In der unteren Ebene treten zwei weiße Pferde vor die Beine des weiblichen Aktes. Ein dunkelgrüner Gitterwagen taucht hinter den Tieren auf, die ihn jedoch nicht ziehen. In dem Wagen sind verschwommen Beine zu erkennen, die darauf schließen lassen, dass sich in ihm ein liegender Mensch befindet.

Auch in dem unteren Bildteil malte der Künstler einen männlichen und weiblichen Akt, jedoch stark verkleinert. Letzterer schwebt horizontal über dem Wagen. Sein angewinkeltes Bein ist perspektivisch falsch gezeichnet. Dies und die dreifarbige Bemalung des Körpers in Ocker, Rot und Hellgrün erwecken den Eindruck, als ob der Akt mit einem anderen, nicht sichtbaren Körper verschmelze. Der männliche Akt steht mit vor der Brust verschränkten Armen hinter den Pferden, ja er lehnt sich fast an den großen weiblichen Akt an. Sein Kopf ist zur Seite geneigt.

Bevor wir eine Deutung des Bildes versuchen, sollten wir ergründen, warum Fritz Griebel beginnt, verstärkt in den 1930er-Jahren sich dem antiken Bildprogramm zuzuwenden. Seit 1924 reist Griebel immer wieder nach Italien, auch um dortige Museen und Kirchen aufzusuchen. Kunsthistorisch ist seine Antikerezeption der internationalen Bewegung des »Neuen Klassizismus« um 1910 bis 1930 zu subsumieren. Die Bestrebungen dieser Avantgardebewegungen formierten sich bereits während des Ersten Weltkrieges in Frankreich und Italien und breiteten sich nach Kriegsende rasch aus, so dass in Deutschland und England Parallelbewegungen entstanden. Führende europäische Künstler wie Picasso (1881–1971), Matisse (1869–1954) oder Maillol (1861–1944) entdeckten das kulturelle Erbe der Antike als ein für sie bereicherndes Stilmittel.

Chirico: Love Song, 1914, Öl/Lwd., Museum of Modern Art, New York.

Grundlegendes Merkmal des »Neuen Klassizismus« war das Prinzip der stilistischen Synthese – dem Ausgleich von Stilisierung und Naturbeobachtung, von Ausdruck und Harmonie. Archäologische Ausgrabungen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert lenkten zudem das Interesse der Künstler auf frühe Formen antiker Kunst wie die der etruskischen (8./7. – 1. Jh. v. Chr.). Mit der Rückbesinnung auf die Antike schufen die Künstler einen Gegenpol zur kriegszerstörten Welt. Die Antike wurde als ein Ideal empfunden, als eine Kontemplation einer höheren, reineren und perfekteren Realität, die von den Künstlern auch nach dem Zweiten Weltkrieg wieder heraufbeschworen wurde.

In unzähligen Schnittbildern und Rötelzeichnungen entwirft Griebel eine archetypische Gesellschaft, die im Einklang mit der Natur lebt. Er schildert Alltagsleben, Familienleben, aber auch Erotik und Tod. Er nutzt jegliches antikes Formmaterial, auch antike Kleinkunst, um seine Bildidee assoziativ zur Darstellung zu bringen.

In diesem Ölbild herrscht zudem eine enigmatische und melancholische Stimmung vor. Die Figuren bzw. Skulpturen sind für sich. Ihre Blicke sind abwesend und nicht aufeinander gerichtet. Hinter dem das Bild dominierenden weiblichen Akt ist ein dunkelroter Schatten zu entdecken. Paradoxerweise sind die Füße des Schattens entgegensetzt zum Akt. Der Schatten geht von seinem Körper weg, er löst sich von ihm.

Der Schatten macht sich auf den Weg in den Hades, des Totenreiches und der Unterwelt. Bei den Griechen findet sich der Begriff der Seele (psyche) zum ersten Mal in der abendländischen Kulturgeschichte deutlich beschrieben. Im Augenblick des Sterbens löste sich die Seele vom Körper, um in den Hades zu fliegen. Die Seele, d. h. der Schatten wurde als Ebenbild (eidolon) des verstorbenen Menschen angesehen, körper- und schwerelos, aber dennoch fähig zu leiden und sich ins Leben zurück zu sehnen. Damit die Schatten der Toten in den Hades gelangen konnten, mussten ihnen durch Begräbnisrituale die letzten Ehren erwiesen werden.

So musste beispielsweise der Tote in den frühen Morgenstunden vor Sonnenaufgang beigesetzt werden, damit sein Anblick nicht die Götter beleidigte. Ihm wurde in späteren Zeiten eine Münze als Bezahlung für den Fährmann Charon, der ihn über den Fluss Styx bringen sollte, der die Unterwelt von der der Lebenden trennt, in den Mund gelegt und ein Stück Honigkuchen als Gabe für die Götter der Unterwelt mitgegeben. In einem Leichenzug wurde der Körper des Verstorbenen zum Friedhof in der Umgebung der Stadt getragen oder in einem teilweise prunkvollen Leichenwagen gefahren. Dort wurden sein Leben und seine Taten in Reden gelobt und er wurde gemeinsam mit Grabbeigaben entweder begraben oder auf einem Scheiterhaufen verbrannt. In letzterem Fall wurde seine Asche in einer Urne aufbewahrt. Die Verwandten versammelten sich nach der Bestattung zum Leichenschmaus.

Die Ausführungen lassen darauf schließen, dass Fritz Griebel mit diesem surrealen Stilleben Tod, Begräbnis und Trauer auf eine fast schon lyrische Weise malte. Wir sehen in der oberen Bildhälfte ein Paar, über dem der Tod, symbolisiert durch den Schlagschatten des Mannes und der Frau lauert. In dem Moment, als sich der Schatten von dem Körper der Frau löste, stirbt dieser und der Schatten geht ins Totenreich. Im unteren Bildteil, der von der Welle des Flusses Styx separiert wird, sehen wir den Leichnam im Wagen, um den sich ein schwarzer Nebel hüllt. Die Seele, das Eidolon der verstorbenen Frau, schwebt über dem Wagen. Sie will sich noch nicht vom Leben lösen, ihre Körperhaltung ist verdreht. Aber sie ist bereits nur noch ein Schatten ihrer Selbst, worauf die Farben ihres Körpers deuten. Sie beginnt, mit dem Hintergrund zu verschmelzen. Zurückbleibt der trauende Geliebte, den Griebel als dunkelroten Kolossalkopf malte.

Antje Buchwald 2012

Literatur:

  • Antje Buchwald: Fritz Griebel und die Suche nach Harmonie und Form im Medium Scherenschnitt. In: Art & Graphic magazine (2008), S. 3-11.
  • Sarah Iles Johnston: Restless Dead. Encounters between the Living and the Dead in Ancient Greece. Berkeley 1999.