Album der Scherenschnittporträts „Bildnisse ab 1920“

Bild von einer Scherenschnittsilhouette im Profilkopf
Abbildung 1: Antonia Egler, FGO.00492

„Was kann weniger eines Menschen Abbild sein, als die Silhouette, und wie viel vermag sie doch auszusagen – wenig Gold, aber das Reinste.“[1] Mit dieser Aussage fasst die Film-Pionierin Lotte Reiniger die Kraft der Silhouette zusammen, allein durch den Schattenriss die wesentlichen Merkmale einer Figur sichtbar zu machen – ein Phänomen, das sich auch in ihren Filmen beobachten lässt. Auch der Heroldsberger Künstler Fritz Griebel nutzte die präzise Aussagekraft der Silhouette und fertigte zahlreiche Scherenschnittarbeiten an, darunter auch ein Album mit Porträts von verschiedensten Personen aus seinem Familien- und Freundeskreis. Wie eine Art Fotoalbum liefert dieses Heft Eindrücke seines nächsten Umfeldes. Dargestellt sind dabei stets nur Kopf und Ansatz des Oberkörpers. Alle portraitierten Personen sind somit als Brustbilder und im Profil festgehalten. Blättert man durch die Seiten, so stellt man fest, dass sich jedes Bildnis durch individuelle Merkmale auszeichnet. Griebel gab sich sichtlich Mühe, auch die kleinsten Details, wie Augenbraunen und Wimpern herauszuarbeiten. Am Porträt der Antonia Egler (Abbildung 1) lässt sich die Darstellung der spezifischen Eigenschaften besonders gut zeigen. Anhand ihrer Gesichtszüge könnte man hier eine ältere Dame vermuten.

Die Technik des Scherenschnittes selbst hat ihre Wurzeln im 4. bis 6. Jahrhundert v. Chr. in China, wo die Silhouettenarbeiten auch in Form von Schattentheatern zum Leben erweckt wurden. Unter dem Namen ombres chinoises fand das Schattentheater und damit auch der Scherenschnitt im 18. Jahrhundert seinen Weg nach Europa.[2]  Griebels Porträtschnitte folgen einer langen Tradition an Bildnissen in Profilansicht, die bereits in der Antike beginnt. Zur gleichen Zeit begann man auch damit, die Silhouettenarbeiten zu interpretieren und zu versuchen aus dem Schattenriss einer Person auf ihren Charakter zu schließen. Diese Studie der sogenannten Physiognomik erreichte in der Zeit der Aufklärung ihren Höhepunkt, was sich auch durch diverse Handbücher, beispielsweise von Johann Caspar Lavater, belegen lässt. Obwohl die Physiognomik damals wie heute viel Kritik erntet, trug sie wesentlich dazu bei, dass der Scherenschnitt an Popularität gewann.[3]

Bild von zwei Scherenschnittsilhouetten von Köpfen
Abbildung 2: Friedrich Müller und Silly, FGO.00497

Bei der Anfertigung eines Scherenschnitts benötigen Künstler bereits eine genaue Vorstellung des späteren Ergebnisses. Durch das Schneiden des Papiers vollführt sich eine Metamorphose, die einen einfachen meist schwarzen Papierbogen in die Silhouette von Menschen, Tieren, Pflanzen und Ornamenten verwandelt. Alle Portraits des Albums sind aus schwarzem Glanzpapier ausgeschnitten und direkt in auf das weiße Papier des Hefts geklebt. Auf diese Weise kann sich der ganze Zauber der Silhouettenarbeiten entfalten: denn trotz der auf den ersten Blick einfachen Ausführung – schwarzes Papier auf hellem Grund – kann sich der Betrachter einen Eindruck von der dargestellten Person machen. Der Scherenschnitt spielt somit mit der Wechselwirkung des Sichtbaren und Unsichtbaren. Durch den Schattenriss der Figur wird der Betrachter dazu verleitet, fehlende Details mittels seiner eigenen Fantasie zu ergänzen. Teilweise sind die kleinen Portraits auch mit dem Namen der jeweiligen Person versehen, was ihre Individualität zusätzlich unterstreicht. Dies lässt sich am Beispiel der beiden Porträts von Friedrich Müller und Silly (Abbildung 2) gut beobachten. Die beiden gleichgroßen Schnitte befinden sich versetzt eingeklebt auf einer Seite des Hefts. Bei Friedrich Müller sticht besonders der Bart, bei dem einzelne Haarsträhnen sichtbar sind, ins Auge. Im Bildnis von Silly wurde der Spitzenkragen ihres Gewands durch Perforierung des Papiers – vermutlich mit einer Nadel ausgeführt – dargestellt. Durch diese Art der Gestaltung wird ihrem Porträt nicht nur ein weiteres Detail ergänzt, sondern es wird auch Tiefenwirkung erzielt. Die räumliche Wirkung macht deutlich, dass sich der Spitzenstoff vor dem Hals befindet. Dadurch wird die dem Betrachter zugewandte Schulter dreidimensional.

Das Heft, das ab dem Jahre 1920 für mehrere Jahrzehnte geführt wurde, gibt auch Auskunft zur Weiterentwicklung von Griebels Stils. Frühe Arbeiten stechen durch ihre höchst detaillierte Ausarbeitung ins Auge. Nach und nach wird die Formgebung einfacher, teilweise auch abstrakt. Dies fällt auch bei den Porträts auf, die in den späteren Jahren großformatiger und schlichter wirken. Ein Beispiel ist der Frauenkopf (Abbildung 3) aus dem Jahre 1940.

Bild eines Scherenschnitts von einem Kopf im Profil.
Abbildung 3: Frauenkopf (Dr. Ilse Merten), 1940, FGO.00529

Am ergreifendsten sind neben den Kinderbildnissen wohl die Portraits von Paaren, die so gefertigt und eingeklebt wurden, dass sich die dargestellten Personen in die Augen blicken. Auf diese Weise setzen sich die beiden einzelnen Portraits gegenseitig in Kontext, interagieren miteinander und wirken auf den Betrachter noch persönlicher. Das ist beispielsweise bei der Darstellung von Peter und Luise Griebel (Abbildung 4) der Fall.

Bild von zwei Scherenschnittsilhouetten, links ein Mann, rechts eine Dame, sie schauen sich an.
Abbildung 4: Peter und Luise Griebel, FGO.00493

In Griebels Œuvre sind die Scherenschnitte besonders bedeutend, da er sie sein Leben lang anfertigte. Das Album der Profilschnitte liefert somit einen spannenden Einblick in seine Silhouettenkunstwerke, die einen beim Blättern durch das Album aufgrund ihrer unterschiedlichen Ausarbeitung immer wieder in den Bann ziehen.

Sophie Singer 2024

Literatur:

  • Annika Schoemann, Der Deutsch Animationsfilm. Von den Anfängen bis zur Gegenwart 1909-2001 (zugl. Diss. Mainz 2003), Sankt Augustin 2003
  • Barbara Lange, Die Abenteuer des Prinzen Achmed (1926). Ein cineastisches Experiment, in: Animation und Avantgarde. Lotte Reiniger und der absolute Film, Hg. von Evamarie Blattner, Bernd Desinger, Matthias Knop, Wiebke Ratzeburg, Tübingen 2015, S. 27-33

Bilder:

aus: FGO.00491-533 Bildnisse ab 1920 (22,2 cm x 18,5 cm) Beispielbilder:

  • Abbildung 1 Antonia Egler, FGO.00492
  • Abbildung 2 Friedrich Müller und Silly, FGO.00497
  • Abbildung 3 Frauenkopf (Dr. Ilse Merten), 1940, FGO.00529
  • Abbildung 4 Peter und Luise Griebel, FGO.00493

[1] Lotte Reiniger zitiert aus dem Dokumentarfilm: Lotte Reiniger. Hommage an die Erfinderin des Silhouettenfilms. Von Katja Raganelli, zitiert nach Annika Schoemann, Der Deutsch Animationsfilm. Von den Anfängen bis zur Gegenwart 1909-2001 (zugl. Diss. Mainz 2003), Sankt Augustin 2003, S. 143.

[2] Vgl. Schoemann 2003, S. 41.

[3] Vgl. Lange 2015, S. 27-33.