Mann und Idol

Fritz Griebel: Mann und Idol, 1959er Jahre, Scherenschnitt, 20 x 25 cm

Neben der Kunst Paul Cézannes (1893–1906) war es besonders die Kunst des Altertums, die Fritz Griebel immer wieder faszinierte und zum Anlass zahlreicher Bildwerke wurde. Eindrucksvoll ist dies in seinen Scherenschnitten zu sehen. Ab den 1950er-Jahren tauchen in Griebels Bildwelt vermehrt Schnitte auf, die sich auch mit antiker erotischer Kunst auseinandersetzen.

Erotische Kunst war im antiken Griechenland allgegenwärtig. Man begegnete ihr als Einzelfigur, als Relief, vor allem aber auf Gefäßen, Keramiken, Spiegeln oder auf Lampen. Erotik meint »alle Erscheinungsformen von Liebe, die im Zusammenleben der Menschen offenkundig werden. Neben der Liebe zwischen Frau und Mann, sind auch die gleichgeschlechtliche Liebe, ferner die Eigenliebe und die Liebe im mitmenschlichen Bereich zu nennen. Erotik kann somit als geistig-seelische Entfaltung der Geschlechtlichkeit definiert werden, die bewusst oder unbewusst das Spiel mit den körperlichen Reizen einbezieht.«

Sexualität meint »die Geschlechtlichkeit in der Gesamtheit aller Verhaltensweisen, die sich auf den Geschlechtsakt bzw. auf die Triebbefriedigung bei Mensch und Tier beziehen. Aber im Unterschied zum Tier verbindet sich die Sexualität beim Menschen nicht ausschließlich dem Fortpflanzungszweck. Als Bestandteil der menschlichen Persönlichkeit ist sie nicht nur körperorientiert, sondern hat Teil am Geistig-Seelischen. Die dem Menschen innewohnende Fähigkeit, seine geistig-seelischen und körperlich-sinnlich geprägten Verhaltensweisen zu vereinen, schließt somit einerseits Erotik und Sexualität als Synonyme zu gebrauchen. Aber die enge Verwandtschaft von Erotik und Sexualität, deren Grenzen sich häufig überschneiden, erlaubt andererseits, ja fordert sogar, die Begriffe zuweilen gegeneinander auszutauschen.« (Dierichs 1988, S. 3)

Fritz Griebel: Leibesübungen, 1957, Scherenschnitt, 32 x 24 cm

Wird heute primär der weibliche Körper zum Objekt der Begierde degradiert, war das in der antiken Welt nicht der Fall. Seit Ende des 6. Jahrhunderts v. Chr. ist die nackte Gestalt dem Mann vorbehalten. Erst Jahrhunderte später taucht der weibliche Akt auf. Es entblößte sich nur der griechische Mann und nur der schöne mit einem trainierten Körper. Dies war der freie Mann, der nicht zu arbeiten brauchte und über Muße verfügte, seinen nackten (gymnos) Körper in der Palästra zu trainieren.

Ist die athletische Nacktheit an Betätigung gebunden, handelt es sich bei den ersten künstlerischen Darstellungen unbekleideter Männer um bewegungslose, bartlose Jünglinge. Die Kuroi schreiten mit einem Bein auf uns zu, der Rumpf ist frontal und starr, die Arme seitlich am Körper angelegt. Die ersten Kuroi hatten gewaltige Ausmaße, waren weit über lebensgroß, manche sogar mehr als drei Meter hoch. Sie bewachten Heiligtümer und Begräbnisstätte. Ihre imposante Gestalt flößte Angst ein.

Münchner Kuros, ca. 540–530 v. Chr., 2,08 m, Marmor aus Paros. Münchner Glyptothek (Quelle: wikipedia.org)

Bald überschwemmen sie – auf Mannshöhe geschrumpft – im Laufe des 5. und 6. Jahrhunderts v. Chr. griechische Heiligtümer und Nekropolen. Sie flößen keine Angst mehr ein, sondern betonen die Schönheit jugendlicher Körper. »Für die Griechen schließt die Schönheit Tugend mit ein, und die Tugend hat ihren Ausdruck in der Schönheit. Man hat das Gattungsbild des vollkommenen Menschen konstruiert. Die Nacktheit ist zu einem Kleid geworden.« (Sánchez 2013, S. 22)

Die erste weibliche Nacktskulptur, nach Vorlage des männlichen Körpers, war denn auch die einer Göttin. Praxiteles (um 390 v. Chr.–um 320 v. Chr.) schuf im 4. Jahrhundert v. Chr. Aphrodite. Sie wurde zu einer Touristenattraktion und war die populärste Statue der ganzen Antike. Es war ein öffentliches Bild, das zugleich als kollektives Kultbild funktionieren musste. Die Statue befand sich in einem Rundbau. Praxiteles zeigte seine Aphrodite vor oder nach dem Bad überrascht, so dass sie ihre Scham bedeckt; lächelnd blickt sie den Betrachter an. Plinius der Ältere (23 n. Cr.–79 n . Chr.) berichtet in seiner Naturgeschichte:

»Ihr kleiner Tempel ist ringsum ganz offen, so dass das Bild der Göttin von allen Seiten betrachtet werden kann, das, wie man glaubt, mit ihrem Segen verfertigt wurde. Von welcher Seite auch immer man sie sieht: sie verdient gleiche Bewunderung. Man berichtet, dass einer, der von Liebe ergriffen war, sich nachts verborgen hielt, das Standbild umarmte und als Beweis seiner Begierde einen Flecken hinterließ.« (zit. n. Sánchez 2013, S. 32).

Knidische Aphrodite, röm. Kopie eines Originals von Praxiteles, ca. 330–320 v. Chr., Vatikanische Museen

Der nackte Frauenkörper erlangte in Griechenland und erst recht nicht in Rom solch positive Konnotationen wie der vorherrschend männliche. Das Weibliche ist der Natur verbunden, dem Wilden und dem Irrationalen. Der männliche und der weibliche nackte Körper werden zwar begehrt, aber nur der männliche besitzt einen edlen und heroischen Charakter. Die männliche Aktfigur verbreitete sich in der gesamten Bilderwelt der griechischen Kunst, in der Herrscher-, Funeral- und Votiv-Ikonographie. »Der Frauenkörper hingegen stellt nie etwas anderes als eine Göttin dar – die Göttin der Liebe.« (Sánchez 2013, S. 39)

Fritz Griebels Schnittbild schildert keine Gesellschaft von Athleten, Kriegern oder tugendhaften Frauen, sondern die weit davon entfernte Welt der sexuell aktiven und auch anstößigen Körpern von Satyrn und Prostituierten. Tugendhafte Bildwerke von Männern und Frauen haben das Geschlecht eines Kindes, d.h. einen kleinen Penis und haarloser Vulva. Das Geschlecht wird zu einem inaktiven, harmlosen und modellhaften. Nacktheit kann so von der Gemeinschaft als ästhetisches Modell und zugleich mit hohen moralischen Werten belegt werden.

Griebels Schnittbild hingegen zeigt einen fast nackten, lächelnden Mann, dessen erigierter Penis unter seinem Rock hervor drängt. Er ist von der Seite geschnitten; seine überlangen Arme versuchen ein bekleidetes, weibliches Idol in Frontalstellung zu umgreifen. Binnenschnitte akzentuieren das Gewand und die Geschlechtsmerkmale. Als Idole werden in der Archäologie heute abstrakt anthropomorphe, überwiegend kleine Figuren definiert, die man nicht näher bezeichnen kann. Sie waren für den Kult oder auch als Weih- oder Grabbeigaben bestimmt. Ihnen wurden magische oder apotropäische Kräfte zugeschrieben, sie besaßen Schutzfunktionen oder spielten eine Rolle bei Initiationsriten. Keineswegs handelt es sich bei den Idolen immer um eine Darstellung von Göttern, wie man lange glaubte.

Zwei kleine weibliche Figurinen tanzen mit erhobenen Händen um die Beine von Mann und Idol; eine männliche Figur streckt ihren Penis zur Wade des Mannes. Bildsprachlich ist der Schnitt einfach und die Figurinen erinnern stilistisch an ur- und frühgeschichtliche Bildwerke.

Nach 1945 bevorzugte Griebel oft kein handelsübliches Papier mehr. Er stellte stattdessen seine Papiere im handlithographischen Verfahren selbst her. So zeichnen sich diese Papiere durch fein strukturierte und zur Grau neigenden Schwärze aus.

In der griechischen Kunst und Kultur ist die Verehrung der männlichen Geschlechtsorgane evident. Ja, man kann sogar von einem »Phalluskult« sprechen. Kult beinhaltet ja »die heilige Pflege und abgöttische Verherrlichung des verehrungswürdigen Objektes«. (Dierichs 1988, S. 39) Zahlreiche Denkmäler aus Religion, Sage und Realität belegen dies.

Die männlichen Geschlechtsorgane sind Symbol für »die Keimkraft der Natur, eine magische Kraft, die vitale Zeugungskraft, die selbst den genius eines Verstorbenen darstellen kann.« (Sánchez 2013, S. 55) So verwundert es nicht, dass der Phallus ein Gegenstand des täglichen Gebrauchs war: als Amulette um den Hals von Kindern, als Skulpturen auf der Straße und zu Hause, als Phalluskostüme bei den Satyrspielen oder als Parfum- und Trinkgefäße. Auf Schritt und Tritt waren Griechen und Römer mit Phallussymbolen umgeben. Sie hatten jedoch keinerlei obszöne oder anstößige Bedeutung. Denn den männlichen Geschlechtsorganen wurden glücksbringende Kraft- und Schutzfunktionen zugeschrieben. Sie sollten für Glück und Wohlstand sorgen und vor dem bösen Blick (fascinus) schützen. Das weibliche Geschlecht blieb im Dunkeln. Es ist im Gegensatz zum männlichen leicht zu zeichnen oder zu meißeln. Auf Grund seiner Wandlungsfähigkeit wurde es sogar als eigenes Wesen angesehen.

Griebels Schnittbild thematisiert die populäre Vorstellung von der sexuell zügellosen Antike. Ein Mann wird von einem Idol, d. h. einer kleinen Skulptur, erregt. Die großen Augen und die senkrechten Linien im Gesicht des Idols vermitteln den Eindruck, als ob es sich bedrängt und überrumpelt fühlt. Lüstern blickt der Mann es an. Doch bald schon wird er merken, dass er sein Verlangen nicht stillen kann, wie einst der Jüngling im alleinigen Liebesspiel mit Praxiteles Aphrodite. So ist dieses Schnittbild auch als ein ironischer Kommentar über den unbändigen Sexus des Mannes zu lesen.

 

Antje Buchwald 2017

 

Literatur:

  • Stephanie-Gerrit Bruer: Idole – Eine kurze Einführung. In: Max Kunze (Hg.): Götzen, Götter und Idole. Frühe Menschenbilder aus 10 Jahrtausenden. Ausst.-Kat. Winkelmann Museum, Stendal. Ruhpolding, Mainz 2010, S. 93.
  • Angelika Dierichs: Erotik in der Kunst Griechenlands. Antike Welt. Zeitschrift für Archäologie und Kulturgeschichte, Sonderheft, Jg. 19. (1988).
  • Carmen Sánchez: Kunst und Erotik in der Antike. Berlin 2013.