Traumhafte Entführung

Fritz Griebel: Traumhafte Entführung, 1932, aquarellierte Tuschzeichnung, 54 x 68 cm

Anfang der 1930er-Jahre setzte sich Fritz Griebel mit den Strömungen des Surrealismus auseinander. Es sollten einzigartige Werke entstehen, die Griebel als Vertreter der klassischen Moderne klassifizieren.

Dieses Werk des Monats gehört zu einer kleinen Serie, in der sich Griebel mit Reiterbildern auseinandersetzte. Das Motiv des Pferdes ist in der Kunst Griebel eher marginal vertreten, sieht man von der Rezeption antiker Kleinplastik in seinen Scherenschnitten und Malerei ab.

Das Pferd ist Gegenstand der bildenden Kunst in fast allen Zeiten und Kulturen gewesen. Es wurde als Zug- und Reittier, in Kampfszenen und Wettkampfrennen dargestellt sowie als autonomes Thema in Plastik, Malerei und angewandter Kunst.

In vielen Kulturen des Altertums stand das Pferd in enger Beziehung zu den Göttern. Auf Grund der halbmondförmigen Hufabdrücke könnte die Verbindung des Pferdes zur Mondgöttin herrühren. Der Mond ist in fast allen Kulturen weiblichen Geschlechts. Die Mondphasen werden in enger Verbindung zum weiblichen Zyklus gedeutet und versinnbildlichen zugleich Geburt und Tod.

Die Tuschzeichnung Fritz Griebels zeigt einen schlafenden Frauenakt auf einem Schimmel, das von einem Mann entführt wird. Im Hintergrund sind Büsche und blauer Himmel angedeutet. Die Strichführung wirkt sehr skizzenhaft. Der Künstler legte keinen Wert auf exakte anatomische Wiedergaben von Menschen und Tier. Er betont damit die Flüchtigkeit eines Traumes. Die aquarellierten Flächen sind stimmungsvoll auf dem Blatt verteilt.

Lucas Cranach d.Ä.: Liegende Quellnymphe, 1518, Öl/ , 59 x 91,5 cm. Museum der Bildenden Künste, Leipzig.

Die schlafende nackte Frau, deren Körper und Decke farbig gemalt sind, bezieht sich ikonographisch auf das Motiv der Quellnymphe, das Ende des 15. Jahrhunderts in Italien eine Neubelegung erfuhr. In Cranachs d.Ä. (1472–1553) Fassung liegt die Nymphe auf rotem Stoff und hat einen angewinkelten Arm hinter dem Kopf abgestützt. Ihre Augen sind fast geschlossen. Auf dem Brunnenbecken steht in Latein, dass hier die Nymphe dieser Quelle ruhe und man ihren Schlaf nicht stören solle.

Griebels Frauenakt liegt auf einer blauen Decke. Die Farbe Blau symbolisiert seit der Romantik Sehnsucht. Blau wird allgemein mit der Nacht assoziiert. Der Künstler macht uns zum Voyeur, indem wir dem Traum der weiblichen Figur beiwohnen.

Das Pferd gilt als Symbol für Weiblichkeit. Obwohl es ein domestiziertes Tier ist, wird es mit Freiheit, Wildheit und Naturnähe assoziiert. Diese Naturnähe drückt sich in der Tuschzeichnung durch die Farbe Grün bei den Büschen und beim Pferdekopf aus. Nach Marlene Baum ist das Pferd ein archetypisches Symbol, das schon als solches in Mythen auftauche. Das Geheimnisvolle und seine nicht begründbare Aura machen den besonderen Reiz des Pferdes aus. Als vermittelndes Symbol bildet das Pferd eine Brücke zwischen bewussten und unbewussten Teilen der Psyche.

Für Sigmund Freud (1856–1939) ist das Pferd symbolhaft für Triebe, unbewusste Motive und sexuelle und aggressive Kräfte. Griebels Tuschzeichnung rekurriert hierauf: Es symbolisiert verdrängte oder unbewusste Begierden. Die Frau wird als passiv geschildert, die sich von einem Mann, der die Zügel des Pferdes in den Händen hält, entführen lässt: Sie gibt sich ihm hin bzw. ihren Fantasien.

Antje Buchwald 2016

 

Literatur:

  • Marlene Baum: Das Pferd als Symbol. Zur kulturellen Bedeutung einer Symbiose. Frankfurt/M. 1991.
  • Sigmund Freud: Studienausgabe, Bd. 3. Frankfurt/M. 1975, S. 194.