Der Genius

Fritz Griebel: Der Genius, 1937, Rötel/Papier, 64 x 50 cm, FG 0727

Beyde
Stand der Genius je, ohne die Kunst, und sie,
Ohn‘ ihn, jemals am Ziel?
Nennent Kunst nicht, was mis, wie er auch grübelte,
Schuf der Ästhetiker, mis,
Wie tiefsinnig der man auch sich geberdete,
Und es dem Lehrlinge schien.
Solch ein blinzendes Ding, träumt ihr, erkohr er sich,
Jener Sohn des Olymps,
Das zur Geliebten? (Kein Traum träumet wie eurer!) das
Wäre des Genius Kunst?
Ohne die er nur halb lebet, die er durch sich
Kent, von der Forschungen Lust
Hingerissen, zu spähn, was zu dem Herzen stimt;
Und von der falschen Gestalt
Nicht getäuschet, die sie fältschten, die unbelehrt
Muster sahn, und Natur.
Kaum begann er zu blühn, fühlte sich selber kaum,
Als ihm Röthe für sie
Schon entglühte. Er sieht bald sie am Rosenbusch
Stehn im säuselnden West,
Ach und weinen vor Scham, daß sie, die Einfalt selbst,
Doch verheimlichen soll.
Trunken lieben sie sich! Neben den glücklichen
Sprosset der künftige Kranz.

Friedrich Gottlieb Klopstock, 1782

Fritz Griebels Interesse an der griechisch-römischen Antike war immens. Aus ihrer Bildwelt schöpfte er neue Bildwelten ohne eklektizistisch zu sein. Zu einem Bestandteil in seiner Ikonografie wurde der Genius, aus dessen Figur sich das zentrale Motiv des Schwebens entwickelte.

Das Werk des Monats zeigt einen leicht nach links geneigten männlichen Porträtkopf, dessen rechte Gesichtshälfte etwas verschattet ist. Die Gesichtszüge sind ebenmäßig, die vollen Lippen zu einem Lächeln geformt. Auffällig ist das abstehende Ohr, das den Porträtierten individualisiert. Links neben dem Porträtkopf steht auf gleicher Höhe eine hohe schmale Amphore, vor der der Genius schwebt.

Er ist in idealer Nacktheit gezeichnet. Seine Arme sind vom Körper abgewinkelt; der rechte ist über den Porträtkopf erhoben, so dass seine über ihn schwebende flache Hand einen Gestus des Schutzes macht. Seine Gesichtszüge sind leicht verwischt.

Die Terminologie des Begriffs ,Genius‘ ist nicht klar umrissen. „Im Grunde eine wunderliche wirrnis“ (sic!), schrieb R. Hildebrand im Artikel „Genie“ in Grimms Deutschen Wörterbuch.

Der Genius ist in der römischen Religion der für die Geburt zuständige Gott: „Der Genius ist die Gottheit, unter deren Schutz jeder von Geburt an lebt. Sei es, daß er so heißt, weil er sich um unsere Zeugung (genamur) kümmert, sei es, weil er zugleich mit uns gezeugt (genitur) wird, sei es, weil er uns nach unserer Zeugung (genitos) aufnimmt und uns beschütz; auf jeden Fall wird er Genius nach dem Wort geno, ,ich zeuge‘, genannt.“ (Censorinus, de die nat. 3.1) Der Genius war das zeugungsfähige Prinzip im Mann sowie sein Schutzgeist. Dem Genius des Mannes entspricht die Juno der Frau für das gebärende Prinzip. Er ist der für die Geburt zuständige Gott und ist nicht leicht von dem eigens dafür eingesetzten Geburtstagsgott, Natalis, zu trennen. Hauptfest des Genius ist der Geburtstag, wofür ihm Opfergaben, wie Wein, Weihrauch, Kränze und Kuchen, dargebracht wurden.

Er ist der Gott, der den Menschen bestimmt, denn er bestimmt dessen Schicksal. Er ist ein Gott der menschlichen Natur und als solcher ein sterblicher. Das Paradox – die Sterblichkeit eines Gottes – wird in der antiken Literatur nicht weiter behandelt, war doch die römische Religion eine Religion der Orthopraxie, in der rechtes Handeln das entscheidende Element war. Des Weiteren ist der Genius in seiner Verfassung inkonstant, wandelbar von Mensch zu Mensch. Hiermit sind nicht nur seine äußeren Erscheinungen, sondern auch seine ethischen Dimensionen gemeint. Im Genius sind alle Möglichkeiten des menschlichen Verhaltens beschlossen.

Dem Genius ist also ein Wirkungsprinzip inhärent, welches sich nicht nur auf die persönliche Schutzfunktion beschränkte, sondern auch auf Truppenteile und Kollegien erstrecken konnte, ja sogar auf Orte (Genius loci), wie Provinzen, Städte und Märkte oder Theater, bis hin zu übergreifenden Genius Roms (Genius urbis Romae). Im Kaiserkult wurde der Genius Augusti verehrt.

Er kann als Gestalt einer Schlange auftreten oder als anthropomorphe Darstellung als Togatus oder Jüngling mit Schale und Füllhorn als Attribute; später auch als geflügelte Gestalten bzw. Knaben.

In der Goethezeit mit ihrem Geniekult findet nun eine Verlagerung die auf das Individuum beschränkte Schutzfunktion des Genius hin zu einer „Gottheit allgemeiner Ordnung“ statt. Es verwundert nicht, dass der in der römischen Vorstellung nur unscharf erfasste Begriff des Genies sich leicht zum Begriff ,Genius‘ parallelisieren und konvergieren konnte. Der Genius wird zu einem künstlerischen Prinzip erhoben. Der Künstler hat durch ihn nicht nur Zugang zu allen Bereichen des menschlichen Lebens, sondern auch zum Übernatürlichen. Und steht als Instanz noch über den Musen.

Der Genius ist die Inspirationsquelle des Künstlers, seine Schöpferkraft – ein aktiv-männliches Prinzip. Dies erklärt die bedeutende Stellung des Genius im Werk Fritz Griebels. Dabei hat der Genius eine Doppelfunktion für ihn: Einerseits symbolisiert die Figur das künstlerisch-kreative Element, andererseits ist er eine Metapher für die Hochschätzung griechisch-römischer Kunst und Lebenswelt. Im Genius vereinigt sich nach Wendelin Schmidt-Dengler die „Göttlichkeit des Menschen“ und die „Beseelung der Welt“ – Aspekte, die sich in Griebels Kunst und Weltanschauung wunderbar widerspiegeln.

 

Antje Buchwald
Kunsthistorikerin 2018

 

Literatur:

  • Friedrich Gottlieb Klopstock: Ausgewählte Werke, hg. von Karl August Schleiden. München 1962, S. 130.
  • Wendelin Schmidt-Dengler: Genius. Zur Wirkungsgeschichte antiker Mythologeme in der Goethezeit. München 1978 (Zitate der Reihenfolge im Text: S. 10, 24, 86, 11).