Mann mit Vogel

Fritz Griebel: Mann mit Vogel. 1932, Aquarell, 63 x 48 cm.

Aus dem Kopf einer männlichen Büste im Dreiviertelprofil entsteigt ein Vogel mit leicht gespannten Flügeln und offenem Schnabel. Unterhalb der Büste ist eine stilisierte Blume oder ein Kleeblatt.

Aus dünnen und dicken Strichen formiert sich Kopf und Vogel. Die sehr dicken Linien suggerieren Schatten und grenzen die Darstellung scharf ab. Sie kontrastieren mit den hauchfeinen Linien, die fast keine Tusche haben.

Die auf der Bildfläche verteilten Farben beleben die Zeichnung. Der Künstler setzte die Farbe dezent aber überzeugend ein. Er kolorierte nur Teile des Vogels mit Rot und Orange und hielt sich nicht an seine Umrisszeichnung, sondern malte keck über die Begrenzung. Das Himmelblau umgibt das Profil des Mannes, und auch hier schwappt es über den Umriss. Die rotorangefarbene Fläche im Ohr des Mannes ist ein Kontrapunkt zu den anderen Farbflächen. Die aus dem Auge scheinende vertikal verlaufende schwarze Fläche nimmt der Büste etwas von ihrer glatten, makellosen Oberfläche.

Picasso: Tête de femme au chapeau, 1962, Linolschnitt (Bildquelle: John Szoke Gallery)

Interessant ist der Bereich um Nase und Mund. Hier setzte der Künstler mehrmals die Feder an und zeichnete das Auge, als ob das Gesicht en face wäre. Diese Mehransichtigkeit lässt sich auf ein Stilmittel Picassos zurückführen. Sie sollte Simultanität verschiedener Eindrücke und Ansichten veranschaulichen.

Wenden wir uns nun dem Inhalt der Zeichnung zu. Der Künstler lässt und teilhaben an einer Geburt – einer Kopfgeburt. Die Schädeldecke ist nach vorne gewölbt und die Stirn liegt in Falten. Trotz des Schmerzes hat der Mann ein fast süffisantes Lächeln aufgesetzt. Der voll entwickelte Vogel krächzt seinen ersten Schrei.

In der griechischen Mythologie wird die Geburt Athenes als Kopfgeburt erzählt: Metis, die sich in viele Gestalten verwandeln konnte und deshalb dem Werben Zeus‘ lange widerstehen konnte, wurde schließlich von ihm schwanger. Ein Orakel weissagte dem Göttervater, dass ihm seine Tochter ebenbürtig sein werde und sein Sohn ihn stürzen würde. So fraß Zeus die schwangere Metis.

Als dieser starke Kopfschmerzen bekam, spaltete ihn auf seinem Befehl hin Hephaistos mit einem Hammer oder Doppelbeil den Kopf und aus ihm entstieg die erwachsene und in voller Rüstung gekleidete Athene. Der Bruder blieb ungeboren und unbenannt. Athene galt auf Grund ihrer Geburt als Verkörperung des Geistes, der Weisheit und Intelligenz.

Besonders ab den 1930er-Jahren setzte sich Fritz Griebel intensiv mit der Antike auseinander. Seine Zeichnung kann als Kommentar zu Athenes Geburt gedeutet werden: Athene ist nicht nur die Göttin der Weisheit und des Kampfes, sondern auch der Kunst. So ist die Zeichnung zugleich auch eine Metapher über den Künstler per se als Ideengeber. In seiner Vorstellung formieren sich Ideen, die er künstlerisch umsetzt. Es ist also die Geburt eines gedanklichen Entwurfs, den Griebel hier visualisiert: Die Büste als Stellvertreter des Künstlers gebiert einen formgewordenen Gedanken – und freut sich.

Antje Buchwald 2015

Literatur:

Fritz Graf, Anne Ley: Athena, in: Der Neue Pauly, Bd. 2. Stuttgart 1997, S. 160–167.