Antike Szene

Fritz Griebel: Antike Szene, 1930er-Jahre, Öl/Leinwand, 60 x 80 cm

Die 1930er-Jahre markieren für den jungen Fritz Griebel eine bedeutende Phase in seiner Kunstentwicklung. Er setzt sich mit Strömungen des Kubismus und Surrealismus auseinander und findet vor dem Hintergrund antiker Kunst zu einer neuen Bildsprache.

Dieses Werk des Monats ist auf wenige Objekte und Farben reduziert. Auf einem Tisch lehnt vor einem roten Amphoriskos, ein kleines Salb-und Ölgefäß, eine nackte weibliche, tonfarbene Statuette. Neben dem Gefäß stehen zwei nackte Frauen, von denen nur das Geschlecht sowie Ansätze der Oberschenkel zu sehen sind. Ihre Körper sind fragmentiert.

Das Licht beleuchtet die stilllebenhafte Szene stark aus. Es fällt von links ein, so dass die Dinge und Figuren Schlagschatten werfen. Der Hintergrund changiert zwischen den Farben Blau, Beige und Grau, die vermischt sind.

Während die rechte Figur seitlich gemalt ist, ist die andere, die im Zentrum des Bildes angeordnet ist, frontal wiedergegeben. Ihr Kopf ist leicht nach rechts zur anderen Figur gerichtet. Doch findet kein Blickkontakt statt. Die Figuren sind für sich. Das Bild umgibt eine Rätselhaftigkeit, die im Folgenden näher beschrieben und analysiert werden soll.

Apolonios, Sohn des Nestor aus Athen: Torso vom Belvedere, 200–50 v. Chr., Marmor. Vatikanisches Museen, Rom. Foto: Jean-Pol Grandmont, Quelle: wikipedia.org

Es ist vor allem die Fragmentarität der Körper, die zugleich Skulptur und Mensch zu sein scheinen, dem Werk Rätselcharakter und Mystizismus verleihen. Das Fragment (lat. ›fragmentum‹, ›Bruchstück‹, ›Splitter‹, ›Überbleibsel‹), bezeichnet Werke der Literatur und bildender Kunst, die in ihrer »ideellen Struktur eine Unterbrechung aufweisen.« (Ostermann 1996, S. 455) Der Begriff verweist immer auf eine abwesende Totalität, auch wenn er zuweilen die Idee der Ganzheit negiert. Sowohl unvollständig überlieferte als auch unvollendete Werke können als Fragmente bezeichnet werden.

Seit der Antike bis in die frühe Neuzeit stehen die Künste »unter dem Ideal eines anschaulichen und geschlossenen Ganzen, also auf das Paradigma der idealistischen Identitätsästhetik«. (Ostermann 19, S. 190)

Dies ändert sich in der bildenden Kunst erst im 18. Jahrhundert mit Johann Joachim Winckelmanns (1717–1768) Beschreibung des Torso im Belvedere zu Rom(1759), in der er das fragmentarische Torsomotiv zum Ideal erhebt. Bereits bei seiner Wiederentdeckung im frühen 15. Jahrhundert inspirierte die Statue viele Künstler, insbesondere Michelangelo (1475–1564). Seit Auguste Rodin (1840–1917) schließlich ist die fragmentarische Skulptur ein vollendetes Werk. Auch in der impressionistischen Malerei tauchen vermehrt fragmentierte Körper und Formen auf. Das Fragment wird zur Metapher der Moderne. Die Collage des frühen 20. Jahrhunderts ist ihre prominenteste Vertreterin.

Albrecht Dürer: Zeichner des liegendes Weibes, 1525, Holzstich, 7,5 cm x 21,5 cm

Besonders der weibliche Körper wird von Künstlern fragmentiert. Am Beginn steht Albrecht Dürers Zeichner des liegendes Weibes. Es ist eine Illustration aus Dürers Underweysung der Messung mit dem Zirckel und Richtscheyt (1525 erstmals veröffentlicht). In diesem Fachbuch setzt sich Dürer mit der Zentralperspektive auseinander.

René Magritte: Die ewige Evidenz, 1930, Öl/Lwd., 22 x 12 cm, 19 x 24 cm, 27 x 19 cm, 22 x 16 cm, 22 x 12 cm. The Menil Collection, Houston, CR 327

Der Holzstich zeigt drei Fenster, von denen die zwei im Hintergrund wie Pupillen des menschlichen Auges angeordnet sind. Sie geben den Blick frei auf eine Landschaft und Dinge auf der Fensterbank. Erst das dritte Fenster bzw. Gitter, durch das der Zeichner blickt, zeigt den weiblichen Körper, der in objektivierbare Felder zur besseren Abbildbarkeit aufgespalten wird. Der Betrachter wird zum Voyeur. Als Ölgemälde hätte das Bildchen seinerzeit einen Skandal ausgelöst.

Das Frauenbild der Surrealisten löste später keinen Skandal mehr aus. René Magritte (1898–1967), freischaffender Künstler und in der Werbebranche tätig, beschäftigt sich in seinem Werk mit der Welt, die wir sehen, und von der wir glauben, dass wir sie kennen, die gleichermaßen aber unbekannt ist nach seinem Verständnis nach.

Das Objekt-Bild Die ewige Evidenz existiert in zwei Versionen. Eine zeigt seine Frau Georgette (1930) und die andere ein Modell (1948). Es besteht aus fünf gerahmten Gemälden, das je einen Teil des weiblichen Körpers darstellt. Magritte spaltet den Körper seiner Frau auf.

Verweilt der Blick auf das ganze Objekt-Bild, so stellt sich allmählich ein merkwürdiger perspektivischer Eindruck ein: Während Georgettes Gesicht bzw. Auge auf dem Betrachterraum zugewandt ist, sind ihre Füße von oben gesehen. Betont werden Brust und Bauchgegend, d.h. das Körperliche und Geschlechtliche.

Die »ewige Evidenz« – der Topos der »nackten Wahrheit« – erscheint als nackte Frau. Doch im Gegensatz zu Eva, die im Augenblick des Sündenfalls ihre Nacktheit erkennt, ist Magrittes Frau schamlos. Ihr Blick verrät, wie sehr sie sich ihres voyeuristischen Gegenübers bewusst ist. Doch zeigt Magritte das Ideal der Wahrheit nur als Schein. Sie ist ein Trugbild in Bilderrahmen. Gleichsam dient das Bild aber auch der Objektivierung und Fetischisierung des weiblichen Körpers.

In Griebels Bild sind es antike weibliche Skulpturen, die zwischen Objekt und Mensch oszillieren, die fragmentisiert sind. Wie bei Magritte betont der fränkische Künstler die Geschlechtsmerkmale. Doch sind die Figuren auch nicht eindeutig hinsichtlich ihres Geschlechts zu interpretieren. Beide Figuren kennzeichnen androgyne Züge: Während die zum Teil verschattete Brustpartie der rosafarbenen Figur männlich wirkt, ist das Gesicht der seitlichen Figur weniger weiblich.

Der rote bäuchige Amphoriskos symbolisiert mit seiner Form und Öffnung den weiblichen Körper und dessen Geschlecht. Die Statuette, die jederzeit droht umzukippen, ist ikonographisch an liegende Flussgöttinnen orientiert. Ihre Konturen und Formen sind verschwommen. Im gesamten Bild ist der weibliche Körper nie vollständig dargestellt.

Die unterschwellige Erotik der Bildgegenstände vermitteln den Eindruck einen reinen Sexualität. Fragment und Androgynie symbolisieren utopische Sehnsüchte nach Ganzheit – des Menschen mit sich selbst und seiner seit der Industrialisierung fragwürdig gewordenen Umwelt und Geschichte.

 

Antje Buchwald 2017

 

Literatur:

  • Gohr, Siegfried: Magritte. das Unmögliche versuchen. Köln 2009, Abb. S. 145.
  • Nochlin, Linda: The Body in Pieces. The Fragment as a Metaphor of Modernity. London 2001.
    Ostermann, Eberhard: Fragment. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 3. Tübingen 1996, Sp. 454–464.
  • Ders.: Der Begriff des Fragmer als Leitmetapher der ästhetischen Moderne. In: Athenäum. Jahrbuch für Romantik 1 (1991), S. 189–205.b
  • Schmoll, gen. Eisenwerth: Der Torso als Symbol und Form. Baden-Baden. 1954.
  • Wenner, Stefanie: Ganzer oder zerstückelter Körper. Über die Reversibilität von Körperbildern. In: Benthien, Claudia/Wulf, Christoph (Hg.): Körperteile. Eine kulturelle Anatomie. Reinbek bei Hamburg 2001, S. 361–381.