Beweinung

Fritz Griebel: Beweinung, 1958-1963, Öl/Leinwand, 100 x 80 cm

„Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern Kunst macht sichtbar.“
(Paul Klee)

Abstraktion (lat. Abziehung) ist ein ästhetischer Grundbegriff, der in der Kunstgeschichte seit dem frühen 20. Jahrhundert ein nicht-abbildendes künstlerisches Verfahren (Abstrahieren) beschreibt sowie deren Ergebnis (abstrakte Kunst). Im Fokus der abstrakten Malerei steht das Komponieren von Farben und Formen auf dem Bildträger.

Als Gegenspieler der Abstraktion ist in der Geschichte der Kunst das Konzept der Repräsentation, der Figuration, bestimmt wurden, welches figurativ, erzählend und illusionistisch ist. Die Abstraktion läutete eine Entwicklung ein, die vom Kubismus (ab 1907) über den abstrakten Expressionismus (ab den 1940er Jahren) und der Farbfeldmalerei (ab den 1950er Jahren) reichte. Im Zuge dieser Entwicklungen wird die Malerei sich ihrer materialen und medialen Bedingungen gewahr: Wollte die ältere Malerei noch die Beschaffenheit und Form des Bildträgers, die Eigenschaften der Pigmente und die illusionistischen Mittel vergessen machen, so begreift die moderne Malerei diese Voraussetzungen gerade als ihre spezifischen Bedingungen. Malerei ist nun nicht länger eine Täuschung, sondern sie zeigt, was ein Bild ist – Verteilung von Farbe auf dem Bildträger.

Kasimir Malewitsch: Schwarzes Quadrat auf weißem Grund, 1915, Öl/Lwd., 97 x 97 cm, Tretjakow-Galerie Moskau/2. Fassung 1923, Russisches Museum, Sankt Petersburg.

Spätestens seit Kasimir Malewitsch (1878-1935) das heute als Inkunabel abstrakter Malerei geltende „Schwarze Quadrat“ malte, ist ein Bild keine Abbildung mehr; es bezieht sich auf sich selbst, nimmt keinen Bezug auf ein Außen, einer Räumlichkeit oder Zeitlichkeit.

Die Entwicklung der Abstraktion wurde in Europa durch den Zweiten Weltkrieg gewaltsam unterbrochen. Beispiel hierfür ist die Ausstellung „Entartete Kunst“ 1937 in Deutschland, die den Höhepunkt der Vernichtung moderner Kunst markierte. Nach 1945 bemühte man sich besonders im Westen um die Rehabilitierung abstrakter Kunst, wurde sie doch zur Sprache der freien Welt verklärt in Opposition zur Kunst hinter dem Eisernen Vorhang. So zeigte 1959 die legendäre „documenta II“ in Kassel vornehmlich abstrakte Nachkriegskunst. In dieser Zeit malte Fritz Griebel das hier vorgestellte Werk.

Auf einer grünschwarzen grundierten Fläche sind bunte quadratische und rechteckige Farbflächen um eine weiße, hellblaue und graue Fläche angeordnet. Die bunten Farbflächen sind nicht geometrisch exakt gemalt. Im oberen rechten Bildteil scheint sich eine blaue Fläche gerade erst zu formieren. Interessant ist das obere weißliche Rechteck, aus dem sich eine Kreisform herauszulösen scheint und zu den oberen drei Kreisformen hinlenkt. Auffällig ist die Farbverteilung: Um der weißlich-bläulichen Fläche, die das Zentrum des Bildes ist, sind primär orangene Rechtecke und Quadrate angeordnet. Während die rechte Bildhälfte von blauen und roten Formen bestimmt wird, sind in der linken Hälfte Rot- und Grüntöne sowie Schwarz zu sehen; auch ist diese Bildhälfte durch die lückenlosere Aneinanderreihung der Farbflächen charakterisiert. Insgesamt ist das Bild in komplementäre Farbkontraste aufgebaut.

Sämtliche Farben sind gemischt oder in Schichten übereinander gemalt. Offensichtlich ist dies im Bildzentrum zu sehen: Unter dem Deckweiß scheint Orange durch; das Weiß geht in ein Hellblau und Grau über. Auf der hellblauen Fläche sind sieben senkrechte blaue Striche aufgemalt; sie wiederholen sich in der linken oberen Zone, wo sie sich mit dem orangenen Grund mischen.

Geertgen tot Sint Jans: Beweinung Christi, um 1484, Öl/Eichenholz, 175 x 139 cm, Kunsthistorisches Museum Wien.

Fritz Griebel gab dem Bild den Titel „Beweinung“. Die Beweinung Christi bildet eine eigenständige ikonografische Episode innerhalb der Passionsgeschichte. Sie steht im Zusammenhang mit der Grabtragung und Grablegung Christi. Im Gegensatz zu Pietà-Darstellungen, bei denen Maria ihren toten Sohn auf dem Schoß hält, liegt hier der Leichnam Christi am Boden und wird in der Regel von sieben Personen beweint: der Muttergottes, Maria Magdalena, Johannes, Nikodemus sowie Maria des Kleophas und Salome.

Die abstrakte Komposition offenbart uns eine Innenschau des Künstlers Griebel. Er befreite sich von der jahrhundertealten ikonografischen Darstellung der Beweinung Christi und transformierte sie in geometrische Körper. Das helle Zentrum des Bildes deutet auf den Leichnam Christi; er wird von den bunten Farbflächen umfangen, die man als Trauende begreifen kann. Symbolisch verweist Griebel auf sie in Form der sieben senkrechten blauen Stiche. Mittels der Prinzipien der Abstraktion gelingt es Fritz Griebel die Essenz der biblischen Geschichte zu veranschaulichen: Verbundenheit über den Tod hinaus.

Antje Buchwald 2010