Kruzifixus

Fritz Griebel: Kruzifixus, späte 1920er-Jahre, Scherenschnitt, 14,5 x 9 cm

Fritz Griebel gehört zu den Wegbereitern des modernen Scherenschnitts. Bereits als Jugendlicher griff er zu Papier und Schere und schuf Silhouettenporträts, Schnitte zur Passionsgeschichte und Apokalypse, zu Legenden und Märchen. Einem breiten Publikum wurde er durch Illustrationsschnitte bekannt, wie zum Beispiel 1922 mir dem Büchlein Gottesgarten, in dem er Texte mittelalterlicher Marienlieder illustrierte. Vor dem Hintergrund antiker Kunst entwickelte er einen völlig neuen Stil im Scherenschnitt, den er auch auf andere Techniken übertrug.

Dieses frühe kleine Meisterwerk zeigt einen die Bildfläche bestimmenden Kruzifixus vor einer Doppelturmfassade, zu seinen Füßen Büsche und Bäume sowie ein Hausdach. Der ans Kreuz genagelte Leib Christus symbolisiert die immerwährende Erinnerung des Opfertodes Christi zur Erlösung der Menschen im christlichen Kult. Das Wort vom Kreuz, die Verkündigung des Leidens Christi, seines Todes am Kreuz und seine Auferstehung, ist der Ausgangspunkt christlichen Glaubens.<

Die bildliche Darstellung des Kruzifixus setzt das Kreuz voraus, das seit dem 6. Jahrhundert im byzantinischen Reich vorkommt. Aus auf einem Kreuz aufgemalten Kruzifixus entwickelte sich die künstlerische Darstellung des gekreuzigten Jesu in Plastik und Malerei. Nur zögernd und vergleichsweise spät kommt es zu ersten Darstellungen, galt doch die Kreuzigung als schimpflichste Hinrichtungsart im römischen Reich; außerdem fehlten geeignete antike Bildmuster. Es herrschte eine Diskrepanz zwischen theologischen Bildanspruch und darstellerischer Möglichkeiten.

Griebels Kruzifixus folgt der überlieferten Ikonografie: Der nackte Leib Christi wird nur von einem Lendenschurz bedeckt. Er wird dramatisch vom Wind nach rechts gebauscht. Ein Glorienschein umfängt seinen Kopf. Die Füße sind übereinander geschlagen (Drei- oder Viernageltypus). Der Kopf ist nach rechts geneigt. Oberhalb des bekränzten Kreuzes ist eine geschwungene Tafel, welche traditionell die Inschrift INRI („Iesus Nazarenus Rex Iudaeorum“ = „Jesus von Nazareth, König der Juden“) trägt.

Entgegen der traditionellen Ikonografie ist Jesus allerdings nicht frontal oder von schräg nach links wiedergegeben, sondern von hinten. Es kann der noch lebende Christus sein, den Griebel hier schnitt, der auf die Doppelturmfassade blickt.

Griebel interpretiert die Doppelturmfassade frei, denn der charakteristische Mittelturm fehlt. Entstanden ab dem 11. Jahrhundert aus dem Westbau an Basiliken, gehört die Doppelturmfassade besonders in der Gotik zum prägenden Merkmal französischer Kathedralen: Das Hauptportal, üblicherweise an der westlichen Schmalseite des Kirchengebäudes, wird hierbei von dem Giebeln überragenden Ecktürmen flankiert. Die Türme bilden mit dem Kirchenschiff eine „harmonische Einheit“ (frz. „façade harmonique“).

Idealisierter Stadtplan von Jerusalem nach antikem Muster mit Stadtmauer und Hauptstraßenkreuz. 12. Jahrhundert, Zeit der Kreuzfahrer. Quelle: wikipedia.org

Interessanterweise hatte die Bauform der spätrömischen Basilika gegen Anfang des 5. Jahrhunderts eine religiös-symbolische Bedeutung. Das gesamte Bauwerk symbolisiert eine antike Stadt, deren Strukturelemente sich in den einzelnen Bauteilen des Kirchengebäudes wiederfinden sollten. So symbolisiert zum Beispiel das Portal in der Westfassade das Tor der ummauerten römischen Stadt. Nach der Offenbarung Johannes wird nach der Apokalypse Erde und Himmel erneuert. Aus dem Himmel wird eine neue Stadt herabfahren: das Neue bzw. Himmlische Jerusalem, vorgestellt nach einer realen römischen Stadt.

Während Kruzifixus und Landschaft als reine Silhoutten geschnitten sind, weist die Doppelturmfassade Binnenschnitte auf. Sie ist vertikal in drei Zonen gegliedert. Deutlich wechseln sich die einzelnen Turmabschnitte mit Fenstern und Runddächern ab. Die Türme rahmen den erhöhten Kruzifixus ein. Er ist der Mittelpunkt der Komposition. Kruzifixus und Doppelturmfassade sind nahezu symbiotisch verbunden. Jesus blickt auf seine Ekklesia (Gemeinde), in der das Evangelium verkündet und getauft wird.

Die Darstellung des Gekreuzigten war seit der Renaissance mit der Landschaft zentralperspektivisch verbunden. Griebel knüpft an die Tradition an. Ist bei ihm der ans Kreuz genagelte Jesus ebenso eine christliche Ikone, so bricht er mit der Ikonografie, indem er uns nicht mehr teilhaben lässt an dem Leiden Christi, wie es mit malerischen Mitteln zum Beispiel bei Cranach d.Ä. (1472–1553) der Fall ist. Denn der Scherenschnitt ist eine grafische Kunst, auf Umriss und Fläche reduziert. Der Leib Christi rückt im Scherenschnitt in den Fokus, nicht die Mimik. Dieser Leib Christi wird nur in der expressiven Umrisslinie erfahrbar. Er ist ein Abstraktum, das in der Vorstellung des Betrachters anschaulich wird. Er ist ein kleines Meisterwerk der Schnittkunst. Er ist ein Manifestbild Griebels und steht im Kontext von Caspar David Friedrichs (1774–1840) Tetschener Altar (auch Das Kreuz am Gebirge).

Dieses heute als Ikone der deutschen Romantik geltende Werk zeigt einen mit Tannen und Fichten bewachsenen Berggipfel, auf dem ein von Efeu umwundener Kruzifixus erreichtet ist. Der Leib Christi ist hier im Seitenprofil gemalt und wird von der hinter dem Berg untergehenden Sonne angestrahlt. Die wie im Gegenlicht gemalte Berglandschaft mit Gekreuzigten erinnert an einen Scherenschnitt. Vor dem geröteten, mit Wolken bedeckten Abendhimmel heben sich die Sonnenstrahlen als scharf konturierte Lichtbahnen fächerartig ab.

Sowohl für Griebel als auch für Friedrich war der christliche Glaube basal. Beide schufen trotz ästhetischer und konzeptioneller Unterschiede jeweils ein Bildwerk mit allegorischen Hinweis: Die der Zeit verlorengegangene Unmittelbarkeit des Göttlichen im Zuge der Aufklärung. Doch während bei Friedrich der Kruzifixus in die Natur entrückt ist, steht Griebels Kruzifixus – zwar erhöht –, aber doch in Kontakt mit seiner Gemeinde. Das Wort Jesu wird weiter verkündet.

„Da leuchtet, vom reinsten edelsten Metall, der Heiland am Kreuz, im Gold des Abendroths, und wiederstrahlet so im gemilderten Glanz auf Erden. Auf einem Felsen steht aufgerichtet das Kreuz, unerschütterlich fest, wie unser Glaube an Jesum Christum. Immer grün durch alle Zeiten während stehen die Tannen ums Kreuz, gleich unserer Hoffnung auf ihn, den Gekreuzigten,“ so Caspar David Friedrich.

 

Antje Buchwald 2017

 

Literatur:

  • Claus Bernet: Das Himmlische Jerusalem im Mittelalter: Mikrohistorische Idealvorstellung und utopischer Umsetzungsversuch. In: Mediaevistik, Vol. 20 (2007), S. 9–35, hier S. 16f.
  • R. Haussherr: Stichwort Kruzifixus. In: LCI. Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd., 2. Rom u.a. 1970 Sp. 677–695.
  • Werner Hofmann: Caspar David Friedrich. Naturwirklichkeit und Kunstwahrheit. München 2000.
  • Stichwort Fassade. In: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte, Bd. 7. München 1978, Sp. 566, 572.
  • Herrmann Zschoche: Caspar David Friedrich. Die Briefe. Hamburg 2006 S. 53 (Zitat).