Maria II

Fritz Griebel: Maria II
Enstehungsjahr: 1922
Material: Scherenschnitt
Maße: 19 x 18 cm.

Wie der bedeutende romantische Maler Philipp Otto Runge (1777–1810) begann auch Fritz Griebel seine künstlerische Laufbahn im Scherenschnitt. Das frühe Meisterwerk »Maria II« gibt uns Anlass, das Frühwerk Griebels im Scherenschnitt zu beleuchten.

Als Kinderspiel, Laienkunst und Kunsthandwerk lässt sich der Scherenschnitt weit zurückverfolgen. Er ist ein internationales Phänomen mit einer Geschichte so alt wie die Anfänge des Papiers 105 n. Chr. in China. Der chinesische Buntpapierschnitt hat zwar eine lange Tradition, doch fehlen für eine Ahnenschaft des europäischen Scherenschnitts genügend alte Zeugnisse und schriftliche Quellen. Der Sammler und Kunsthistoriker Martin Knapp stellte denn auch fest: »Unsere abendländische Ausschneidekunst steht wohl in keinem Abstammungsverhältnis zu der des Orients. Das Ausschneiden in Papier ist überhaupt eine Übung, die wenig Schüler und Meister kennt, die überall wieder selbständig auftaucht und daher an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten als eine neue ›Erfindung‹ bezeichnet worden ist.«

In Europa beginnt die Entwicklung des Scherenschnitts im 17. Jahrhundert mit dem so genannten Weißschnitt aus Papier oder Pergament. Das Themenrepertoire reicht von Herrscherporträts, See- und Landschaftsdarstellungen, über Stilleben, bis hin zu Jagdszenen und Architekturstücken.

Fritz Griebel: Büstensilhouette eines Unbekannten, 1926, 30 x 23 cm.

Der in der Mitte des 18. Jahrhunderts aufkommende Schwarzschnitt wird allgemein mit dem Scherenschnitt assoziiert, wobei der Weißschnitt parallel weiter existierte. Von England, über Frankreich und nach Deutschland vermittelt, avancierte die Porträtsilhouette zu einem frühen Massenmedium. Sie wurde zu einem Kulturdokument der deutschen Klassik. Die Bezeichnung ›Silhouette‹ leitet sich vom französischen Generallkontrolleur der Finanzen Ludwigs XV. (1710–1774), Étienne de Silhouette (1709–1767), ab. Sein rigider Sparkurs übertrug sich auch auf die bildenden Kunst. So sollte z. B. das teure Miniaturporträt durch das ausgeschnittene Schattenbild, der Silhouette, ersetzt werden. Mit der Erfindung der Fotografie 1839 verlor die Silhouette zunehmend an Bedeutung.

Um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert erlebte der Scherenschnitt eine Wiederbelebung durch Reformbewegungen wie der »Jugend«. Expressionisten schätzen den Linol- und Holzschnitt, der ähnlich wie der Scherenschnitt die Darstellung auf das strenge Schwarz auf Weiß reduziert. Es erschienen zahlreiche Kalender und Postkarten mit Scherenschnittmotiven, und es fanden große Ausstellungen wie z. B. 1914 die »Jahrhundert-Ausstellung Deutscher Kunst 1650–1800« in Darmstadt und die »Internationale Ausstellung für Buchgewerbe und Grafik« in Leipzig statt, die Scherenschnitte ausstellten.

Fritz Griebel: Blaue Kuh, 1922, 19 x 18 cm.

Auch Fritz Griebel blieb die reizvolle ästhetische Wirkung von geschnittenen Bildern nicht verborgen. Bereits als Kind schnitt er Porträtsilhouetten seiner Eltern. Rückblickend berichtete er: »Während des ersten Weltkrieges erschien eine schmale Geschichte des Scherenschnitts, die meine eigenen Versuche förderten.« Hierbei kann es sich um die von Martin Knapp 1916 herausgegebene Publikation »Deutsche Schatten- und Scherenbilder aus drei Jahrhunderten« handeln, die heute ein Standardwerk ist.

Griebel, der 1917 sein Studium der Buchkunst und Grafik unter Rudolf Schiestl (1878–1931) an der Kunst- und Gewerbeschule Nürnberg aufnahm, der späteren Akademie der Bildenden Künste, deren ersten Direktor nach dem Zweiten Weltkrieg Griebel bekanntlich wurde, trat zuerst mit Illustrationen an die Öffentlichkeit. 1922 gab er im Nürnberger Verlag »Der Bund« die Publikation »Gottesgarten« heraus. In dem Büchlein korrespondieren 45 Scherenschnitte mit Texten von Matthias Claudius (1740–1815), Paul Fleming (1609–1640), Paul Gerhard (1607–1676), Nicolaus Hermann (1500–1561) und Johann Scheffler (1624–1677) sowie anonyme Liedtexte des 12. bis 17. Jahrhundert.

Das Schnittbild »Maria II« ist als ein frühes Meisterwerk des 23 Jahren jungen Fritz Griebel zu bezeichnen. Die Marienfigur erscheint wie eine kleine Holzskulptur. Auf einen kleinen Podest stehend streckt sie die linke Hand aus, in der anderen hält sie das Zepter. Ihr Profil wird von einem Blumenkranz umfangen. Er ist höchst dekorativ mit dem Buschwerk aus Rocaille verflochten. Diese Blatt- und Rankendekoration schließt Maria fast ein und gibt ihr Schutz. Filigran schnitt Griebel Blumen und Blätter. Akzentuiert setzt er Binnenschnitte besonders im Kleid und am Podest ein. Sie wirken wie Glanzlichter, die der Figur Plastizität verleihen.

Griebels frühe Scherenschnittwerk kennzeichnet thematisch und technisch eine große Vielgestaltigkeit. Er belebt die Flächenkunst mit gezielten Binnenschnitten oder arbeitet mit dem Gegensatz von positiven und negativen Formen wie in dem Schnittbild »Blaue Kuh«, das an Franz Marc (1880–1916) »Blaues Pferd I« von 1911 erinnert. Der Körper wirkt fast rundplastisch durch vertikalen Rippenbögen. Präzise schnitt er die Anatomie des Tieres.

Fritz Griebel: Mädchen auf einer Blume, 1922, 19 x 18 cm.

Ein Beispiel für Griebels überbordende Fantasie ist das Schnittbild »Mädchen auf einer Blume«. Es zeigt eine große Blume mit langen Blättern und einer großen Blüte, auf der ein Mädchen mit Zöpfen von einem Notenblatt lesend ein Lied trällert. Nicht nur thematisch ist dieses Bild reizvoll, auch technisch ist es eine gelungene Erweiterung des Scherenschnitts, indem Griebel das Zusammenspiel zwischen positiven und negativen Formen innovativ umsetzte. Es ist feinfühlig wie »Maria II« interpretiert. Fritz Griebels späterer Umgang mit Formen in der Malerei entwickelte sich in frühen Jahren im Scherenschnitt. So wie Runge ging er bald über den heimischen und kindlichen Dilettantismus hinaus und erhob den Scherenschnitt zur Kunst.

Antje Buchwald