Fritz Griebel und die Menschen in der „Erziehungs- und Pflegeanstalt für Geistesschwache Mosbach“ (heute Johannes-Diakonie Mosbach)

Im Mai 2023 gingen Jutta und Peter Griebel den „Maria-Zeitler-Pfad“ in Mosbach in Baden-Württemberg (Neckar-Odenwald-Kreis) ab. Es ist ein Erinnerungsweg über acht Stationen zum Gedenken an die 1940 bis 1945 im Rahmen der NS-„Euthanasie“ 262 ermordeten Bewohnerinnen und Bewohner der damaligen „Erziehungs- und Pflegeanstalt für Geistesschwache Mosbach/Schwarzacher Hof“.

Von links nach rechts: Dr. Hans-Werner Scheuing, Christian Krätz (Führungstandem auf dem Lehrpfad), Peter Griebel, Thomas März (Führungstandem). Foto: Jutta Griebel

Die heutige „Johannes Diakonie Mosbach“ wurde 1880 auf Initiative kirchlich und sozial engagierter Bürger und Bürgerinnen als Anstalt für schwachsinnige Kinder gegründet. Die Erweiterung derselben durch eine Pflegeanstalt blieb noch offen.

Bald bewohnten auch Erwachsene die Anstalt, deren Name sich über die Jahre mehrmals änderte, bis sie von 1905 bis 1949 die Bezeichnung „Erziehungs- und Pflegeanstalt für Geistesschwache“ erhielt.

Seit Mitte der 1960er-Jahre hat sich die Anstalt Mosbach/Schwarzacher Hof zu einem modernen Rehabilitationszentrum für geistig und mehrfachbehinderte Kinder, Jugendliche und Erwachsene entwickelt.

Rasch wuchs seit Gründung im 19. Jahrhundert die Zahl der „Pfleglinge“ und neue Gebäude wurden gebaut. Während der NS-Zeit wuchs die Zahl der Bewohner und Bewohnerinnen stetig an, so dass 1936 der Schwarzacher Hof in der damaligen Gemeinde Unterschwarzach, der bis zu seiner Schließung 1934 eine Jugendhilfeeinrichtung der Inneren Mission gewesen war, angemietet und 1939 angekauft wurde. Dies geschah auf Initiative des Regierungsrats Dr. Kersten vom badischen Innenministerium.

Ab 1936 wurden dort Menschen mit schweren Behinderungen untergebracht – eine „Abteilung für Blöde“. Gleichzeitig wurde der Pflegesatz für „Schwachsinnige“ – Menschen mit leichterer Behinderung, die als „bildungsfähig“ und/oder „arbeitsfähig“ eingestuft wurden –, durch Runderlass des Landesfürsorgeverbandes Baden vom 25.4.1936 in der Anstalt gesenkt.

Unter der Tarnbezeichnung „Aktion T 4“– benannt nach dem Sitz der Organisationszentrale in der Berliner Tiergartenstraße 4 –, begann am 1. September 1939 der Massenmord an geistig Behinderten und anderen „unerwünschten Elementen“ in verschiedenen Tötungsanstalten in Deutschland. Es war auch ein Testlauf für den Holocaust an den Juden Europas.

In der „Erziehungs- und Pflegeanstalt Mosbach/Schwarzacher Hof” geschah dies am 13., 17. und 20. September 1940. Die Bewohnerinnen und Bewohner wurden mit Bussen in die Gaskammer nach Grafeneck verschleppt, getötet und verbrannt. Pfarrer Robert Wilckens (1878–1963), von 1929 bis 1946 Direktor der Anstalt Mosbach/Schwarzacher Hof, versuchte vergeblich, dies zu verhindern. (vgl. Scheuing 1997, S. 36.)

In welcher Beziehung stand nun Fritz Griebel zur Anstalt Mosbach? Die Pfarrersfamilie Griebel verband eine verwandtschaftliche Beziehung mit der Pfarrersfamilie Wilckens. Es fanden regelmäßige Besuche statt. Der Kontakt zu geistig und körperlich eingeschränkten Menschen war ihm nicht fremd. Später besuchte er dann auch mit seiner Familie die Familie Wilckens in Mosbach.

In einem der an die hundert Skizzenbücher, die sich in den Museen der Stadt Nürnberg befinden, hat Frederike Schmäschke, die über die Skizzenbücher Griebels derzeit promoviert, auf über 10 Seiten Porträts von den „Pfleglingen“ aus der Anstalt Mosbach entdeckt. Das Skizzenbuch (SB-FG-052) beginnt am 13. August 1935 in Pottloch an der Ostsee und endet in Mosbach am 4. Januar 1936.

Es sind Bleistiftzeichnungen im Querformat. Unter jedem Bildnis ließ Griebel den Porträtierten, wenn er konnte, eigenhändig unterschreiben. Die meisten Porträts sind Bruststücke.

Georg Barth, Heinz Ernst, Alfred Schwab. Skizzenbuch Fritz Griebel 1935/36

In der Anstalt Mosbach gab es für erwachsene arbeitsfähige männliche „Pfleglinge“ Beschäftigungsmöglichkeiten in der Schreinerei, Schuhmacherei, Bürstenbinderei, Schneiderei, Weberei, Schlosserei, Gärtnerei oder in der Landwirtschaft. Die Werkstätten wurden von Meistern geführt, die eventuell besonders befähigte Bewohner auch ausbildeten, so dass diese später entlassen werden konnten. Dies waren jedoch seltene Ausnahmen.

Eine wunderbare kleine Szene des Korbmachens hielt 1935/36 Griebel in der Anstalt Mosbach fest. Es zeigt rechts Georg Barth (*26.03.1915), genannt Schorsch oder Schorschle, mit Schirmmütze an einem Tisch sitzend, das heißt einer Platte auf einem Gestell, wie er einen Korb bindet. Neben der Szene sitzen zwei weitere junge Männer auf einer Bank vor einem Gerät, das eventuell der Vorbereitung der Wollfäden zum Spinnen gedient haben könnte.

Georg Barth war 1930 Bewohner des „Erziehungsheims Schwarzacher Hof“. In der dortigen Korbmacherei erlernte er bei Korbmachermeister Bauer dessen Handwerk. Nach der Schließung des „Erziehungsheims Schwarzacher Hof“ 1934 wurde er in die „Erziehungs- und Pflegeanstalt für Geistesschwache in Mosbach“ am 17.03.1934 verlegt. Dort gab es wohl keine Korbmacherei, aber es ist denkbar, dass er in der Bürstenbinderei in einer Ecke seine erlernte Tätigkeit weiter ausüben durfte. Mit Stolz trug er die Schirmmütze, sein Markenzeichen.

Sein Name stand auf der Transportliste für den 20.09.1940. Anstaltsleiter Pfarrer Wilckens verhandelte mit dem Transportleiter. Als Ergebnis konnte er hinter 30 Namen die rettende Bemerkung „Arbeiter“ handschriftlich in die Liste eintragen. Georg Barth und Heinrich Ernst (*27.06.1894, „Heinst Ernst“) gehörten dazu. Sie mussten nicht in den „Todesbus“ einsteigen.

Als 1941 die Anstalt Mosbach an die Wehrmacht verkauft werden musste, zogen alle Bewohner von Mosbach auf den Schwarzacher Hof. So kamen auch Georg Barth und Heinrich Ernst irgendwann auf den Schwarzacher Hof zurück. Am 23.02.1944 wurde Georg Barth nach „Neckarz.“ (wohl Neckarzimmern) entlassen. Sein und Heinrich Ernsts weiteres Schicksal ist nicht bekannt.

Es ist die Mimik, die Griebel künstlerisch fasziniert haben mag. Dabei sind seine Bildnisse nie karikierend, sondern fangen immer das Wesen, die Persönlichkeit auf sensible Weise ein. Es ist der Mensch, der ihn interessierte. Der Mensch in allen seinen Facetten – auch der behinderte, von der Gesellschaft weggesperrte

Mit zumeist kräftigen Bleistiftlinien zeichnete er die Umrisslinien, der häufig in en face wiedergegebenen Bildnisse. Seine Linie wechselt von Schraffuren für Schattenpartien und Haare, über runde und verzwirbelte.

Bisher sind keine Ausführungen in Öl bekannt. Sie hätten zu jener Zeit – falls öffentlich geworden – für einen Skandal und Berufsverbot gesorgt.

Bereits am 13. und 17. September 1940 wurden alle fünf Jüdinnen und Juden der Anstalt Mosbach/Schwarzacher Hof nach Grafeneck verschleppt und in einem zur Gaskammer umgebauten Schuppen ermordet – der erste industrielle Massenmord in der Menschheitsgeschichte. Unter ihnen: Leopold Federgrün (*1903), Regine Salat (*1903), Gertrud (Gida) Falkenstein (*1896) sowie Zacharias Muthert (*1894) und Theodor Baruch (*1910).

Zacharias Muthert, aus Zwingenberg stammend, lebte seit 1910 in der Anstalt Mosbach. Er hatte ein ansteckendes und sehr herzliches Lachen. Beliebt war er als „Bürogehilfe“ beim Direktor Pfarrer Wilckens. So schreibt er im Jahresbericht 1934:

„[…] Nachmittags wanderten wir neckarabrwärts, setzten bei Zwingenberg über den Neckar und betrachten die Heimat unseres Zacharias. Er strahlte vor Freude, als er nach langer Zeit sein Heimatdörflein und so manche Altersgenossen und Bekannte wieder sah.“

Oder im Jahresbericht 1935:

„Wenn aber zum Schluß der Anstaltsfilm vorgeführt wird und sie sich selbst hereinmarschieren oder unseren Zacharias mit seinem zwerchfellerschütternden Lachen sehen, endet die Vorstellung unter Lachen und Beifallklatschen. Es geht in der Anstalt nicht langweilig zu.“

Rosa Muthert, Zacharias Mutter, war alleinerziehend; vielleicht der Grund, warum der nur leicht behinderte junge Mann mit sechzehn Jahren nach Mosbach kam. Offenbar lebte Rosa Muthert 1940 in Gailingen am Hochrhein bei Konstanz, wo es das jüdische Wohnheim „Friedrichheim“ gab, das vom gemeinsamen Rabbinat der Badisch jüdischen Gemeinden getragen wurde. 1938 wurde während der Novemberpogrome die dortige Synagoge zerstört. Am 22.10.1940 wurde Rosa Muthert 74-jährig aus Gailingen ins „Camp de Gurs“, nördlich der Pyrenäen, deportiert. Dort verliert sich ihre Spur.

Theodor Baruch, geboren in Pforzheim, wurde am 8. November 1918 mit acht Jahren in die Anstalt Mosbach aufgenommen. Seine Mutter starb kurz nach seiner Geburt. Er hatte Schwierigkeiten, dem Unterricht in der Regelschule zu folgen. Er besuchte in Mosbach die dortige Anstaltsschule und war längere Zeit in der Weberei beschäftigt. In Pforzheim liegt ein Stolperstein für ihn. Verwandte leben in Israel.

Sein Bildnis wird in der Sonderausstellung „Menschen, die noch hätten leben können – Opfer des Nationalsozialismus in der Sammlung Prinzhorn“ vom 23. November 2023 bis 17. März 2024 in der „Sammlung Prinzhorn“ in Heidelberg zu sehen sein.

Die Porträtskizzen Griebels konnten dank Frederike Schmäschke zur Identifizierung der beiden verhelfen sowie weiteren „Pfleglingen“ ein Gesicht geben, die sich nun auch auf den Schautafeln des eindrucksvollen Lehrpfades befinden. Ohne es damals wissen zu können, haben Fritz Griebels Bildnisse heute Dokumentarcharakter. Sie sind Zeugnisse der Erinnerungskultur.

Rückwirkend betrachtet können alle Bildnisse aus der Anstalt Mosbach mit den Worten Michel Foucaults beschrieben werden:

„Der Raum der Erfahrung scheint mit dem Bereich des aufmerksamen Blicks identisch zu werden, mit dem Bereich jener empirischen Wachsamkeit, die nur für die Erscheinung sichtbarer Inhalte offen ist. Das Auge wird zum Hüter und zur Quelle der Wahrheit; es hat die Macht, eine Wahrheit an den Tag kommen zu lassen, die es nur empfängt, sofern es ihr das Tageslicht geschenkt hat; indem es sich öffnet, eröffnet es die Wahrheit.“ (Foucault 1973, S. 11)

Immer wieder haben sich Künstler in der Geschichte der Kunst für die Darstellung von „Irren“ seit ihrer Hospitalisierung im Bethlehem Royal Hospital (Bedlam) um 1400 in England interessiert. Dabei nimmt der „Irre“ je nach Kunstgeschmack und Zeitgeist eine wechselhafte Position ein. Nichtsdestotrotz kommt der Kunst eine tragende Rolle in der Psychiatriegeschichte zu: Sie machte Unsichtbares sichtbar.

Künstler wie William Hogarth (1697–1764), Francisco de Goya (1746–1828) oder Wilhelm von Kaulbach (1805–1874) besuchten sogenannte Irrenanstalten, um die Lebenswirklichkeiten der gesellschaftlichen Außenseiter zu studieren und darzustellen.

Es gehörte im 19. Jahrhundert für Ärzte zum Pflichtprogramm ihrer Ausbildung, eine Studienreise durch europäische Kliniken und Irrenhäuser zu unternehmen.

Doch trotz einer zunehmend medizinisch-naturwissenschaftlichen Bestimmung des Irrsinns war die Psychiatrie noch stark von stereotypen Überlieferungen aus Literatur und Kunst geprägt. Noch bis in die 1970er-Jahre hinein beruhte das Bild von Geisteskrankheit auf Vorurteilen.

Fritz Griebel zeichnete keine Stereotypen von psychisch, geistig oder körperlich beeinträchtigten Menschen. Er konzentrierte sich ganz auf die Physiognomie, ohne sie zu übertreiben und zu verzerren. Am ehesten stehen sie in der Tradition von Théodore Géricault (1791–1824).

Malte der Romantiker zwar erstmals Porträts in Öl von Geisteskranken für den Psychiater Étienne-Jean Georget (1795–1828), so betonen doch beide die Individualität der Dargestellten, ohne ihre Krankheit respektive Behinderung hervorzuheben.

Fritz Griebel hebt die jungen Männer hervor. Er gibt ihnen einen Platz in der Welt auch mit der Setzung ihrer eigenen Unterschrift: Das bin ich!

Dr. Antje Buchwald, August 2023

Dank und Hinweise:
Dank an: Brigitte Deetken, Pfarrer Richard Lallathin, Frederike Schmäschke M.A.

Besonderer Dank an: Dr. Hans-Werner Scheuing

Führungen auf dem Maria Zeitler-Pfad übernehmen inklusive Lotsen-Tandems aus Werkstattbeschäftigten und Ehrenamtlichen.

Kontakt: Pfarrer Richard Lallathin

Literatur/Links: