Fritz Griebels Talent als Graphiker und Illustrator sorgte für eine Zusammenarbeit mit dem Kinderbuchautor Friedrich Böer (1904–1987). Böer, der in den 1930er-Jahren die vom Bauhaus angewandte Technik der Fotocollage erstmalig im Kinderbuch verwendete, war 1948 auch Herausgeber der Lindauer Bilderbogen für die er namhafte Illustratoren gewann. Sie erschienen in drei Folgen; die ersten beiden beinhalteten sechs Bogen, die letzte Folge drei, wobei es noch weitere Entwürfe gab, die nicht zur Ausführung kamen.
Ein Bilderbogen ist ein volkstümlicher Einblattdruck (Flachdruck) des 18. und 19. Jahrhunderts, der eine inhaltlich zusammengehörige, meist kolorierte Bilderfolge zu den verschiedensten bildlichen Motiven mit einem häufig gereimten Begleittext aufweist. Er sollte belehren und unterhalten. In ganz Europa produzierten über 300 Druckereien Bilderbogen. Begründer der lokalen Tradition ist der Buchdrucker Johann Bernhard Kühn (1794–1868) in Neuruppin gewesen.
Der Bilderbogen ist Vorläufer des Comics und ein frühes Massenmedium. In Zeiten, als die Mehrheit der Bevölkerung weder lesen noch schreiben konnte, war der Bilderbogen ein wichtiges Organ für die Vermittlung religiöser, kultureller und politischer Inhalte, das meist zu niedrigen Verkaufspreisen angeboten wurde. Vorläufer sind die von Briefmalern seit dem 13. Jahrhundert hergestellten und auf Jahrmärkten wie auch im Hausierhandel vertriebenen Andachts- und Wallfahrtsbilder sowie die gedruckten Einblattholzschnitte des 15. und 16. Jahrhunderts und illustrierte Flugblätter.
Bilderbogen zeigten alles, was nicht gegen die Staatsräson oder geltende Moralvorstellungen gerichtet war: Heiligenbilder, Haussegen, Sinnsprüche, Porträts von Herrschern und ihren Familien, Veduten, ferne exotische Länder, aktuelle Ereignisse wie Kriege, Hochzeiten und Beerdigungen von Prominenten sowie Naturkatastrophen, sodass man Bilderbogen auch als Vorläufer illustrierter Zeitungen bezeichnen kann.
Auch pädagogische Bilderbogen (Bilder-ABC, Tuschbogen, Märchenbogen, Moralitäten) bildeten sich heraus. Bestand bereits in Preußen seit 1736 Schulpflicht, so wurde sie allerdings erst in den 1880er-Jahren allgemein durchgesetzt. Bis dahin war der Unterricht besonders in ländlichen Regionen lückenhaft und unzureichend. Die Bilderbogen konnten wenigstens ein Minimum an geistiger Bildung vermitteln und konnten auch als billige Enzyklopädie aus einzelnen Blättern für jedermann aufgebaut werden.
In den Lindauer Bilderbogen sind drei von Fritz Griebel gestaltet, die wir uns im Folgenden näher betrachten wollen. Der Bilderbogen Nr.4 zeigt Haustiere als Scherenschnitte. Die 25 schwarzen Tiere sind jeweils gerahmt und heben sich kontrastreich vom gelben Hintergrund ab. Bezeichnet man heute primär Hund und Katze als klassische Haustiere, so tauchen bei Fritz Griebel auch Nutztiere wie Esel, Kuh und Wildschwein auf sowie eine Fledermaus und Biene. Er vermittelt hierdurch den Eindruck ländlichen Lebens, ja der Idylle zwei Jahre nach Kriegsende.
Griebel gelingt es, sein erzählerisches Talent lediglich mit Details und kleinen Gesten umzusetzen. So verfüttert eine Gans einen Frosch an ihr Küken, der Esel muss Lasten schleppen, während das Pferd erschrickt, weil ein Vogel auf seinem Rücken landet, Igel und Biene versuchen zu naschen und zwei Mäuse inspizieren ein seltsames Gestell.
Während dieser Bilderbogen pädagogisch ausgerichtet ist, beziehen sich die beiden folgenden auf ein Gedicht und Sinnspruch mit christlich-moralischer Aussage. Der Bilderbogen Nr. 7 zeigt in der Mitte ein Gedicht, das rechts und links mit sechs kleinen Darstellungen bebildert ist. Das Gedicht stammt sehr wahrscheinlich vom Barockdichter Johann Christian Günther (1695–1723) und behandelt 12 Schlechtigkeiten, die in der Welt herrschen können. Sie werden allegorisierend meist als Personifikation eines abstrakten Begriffs aus dem Gedicht dargestellt. Jedes der 12 Bilder ist in einem gelben Rahmen eingefasst. In einem kleinen Tondo (Rundbild) erscheint in jedem Bild ein Symbol des Begriffs. So wird der Begriff Frömmigkeit als Personifikation eines Mönches dargestellt und als betende Hände symbolisch in dem Tondo.
Der Aufbau der 12 Bilder erinnert an die von den Humanisten der italienischen Hochrenaissance ausgebildete Kunstform des Emblems. Hierunter versteht man eine allegorisierende, durch eine sinnverhüllende und zugleich ausdeutende Kombination von Bild und Wort charakterisierende Darstellung, die meist in Buchform publiziert wurde. Embleme veranschaulichen meist allgemeine Gedanken und vermitteln Moralvorstellungen bzw. universelle Zusammenhänge, in die Dinge, Figuren und Handlungen eingeordnet werden.
Ein Emblem ist dreiteilig aufgebaut. Das Lemma (Motto) ist ein knapper meist lateinischer Wahlspruch, der eine ethische Wahrheit ausdrückt. Das Icon ist der allegorisierende Bildteil und das Epigramm soll die rätselhafte Kombination aus Lemma und Icon mit einem poetischen Text auflösen. Griebel wandelte diese Kunstform ab, indem er auf das Lemma verzichtete und als Epigramm die jeweilige Gedichtzeile bzw. Begriff wählte. Der für das Emblem wichtige Rätselcharakter rückte er in den Hintergrund, sollten doch Bilderbogen gerade von weniger gebildeten Schichten verstanden werden.
»Patentia vincit omnia. Die Geduld überwindet alles« – mit dieser Phrase endet das Gedicht. Diesem tröstenden Ausblick schließt sich der Bilderbogen Nr. 1 an. Auch hier illustrierte Griebel ein Gedicht von Johann Christian Günther. Der Bilderbogen ist hier nicht im Querformat gestaltet, sondern im Hochformat. Im Gegensatz zum vorherigen Bilderbogen ist hier jeweils eine Gedichtzeile direkt unter das jeweilige Bild gesetzt. Werden im vorherigen Gedicht 12 universale und zeitlose Schlechtigkeiten beschrieben, so thematisiert dieses Gedicht die Erlösung hiervon durch den christlichen Glauben und letztlich durch den Tod, der ewiges Leben in »Gottes Tal« verspricht.
Ein herzlicher Dank geht an Herrn Dr. Helmut Schwarz, Direktor des Spielzeugmuseums Nürnberg, für die Bereitstellung der Bilderbogen.