An einem regnerischen Tag des Jahres 1919, in einer Stadt am Rhein, fiel mir auf, mit welcher Besessenheit mein irritiertes Auge an den Seiten eines Bilderkataloges haftete, in dem Gegenstände zur anthropologischen, mikroskopischen, psychologischen, mineralogischen und paläontologischen Veranschaulichung abgebildet waren. Dort standen Bildelemente nebeneinander, die einander so fremd waren, dass gerade die Sinnlosigkeit dieses Nebeneinanders eine plötzliche Verschärfung der visionären Kräfte in mir verursachte, und eine halluzinierende Folge widersprüchlicher […] Bilder wachgerufen wurde […].
Max Ernst, Jenseits der Malerei, 1936
Ein Sammelsurium von Gegenständen in leuchtenden Farben ist auf einer Bildfläche verteilt: eine rote Amphore, eine Gitarre, eine männliche Aktfigur, ein Pferdchen, Stäbe, Birnen, Äpfel, Blätter, Pflaumen und Maiskolben. Die Gegenstände scheinen auf der beigefarbenen Fläche zu schweben. Nur die rote Amphora scheint fest zu stehen. Um sie herum sind die anderen Objekte angeordnet.
Fritz Griebel betont in seinem Stillleben die Flächigkeit der Bildfläche. Er verzichtet auf die in der italienischen Renaissance erfundenen Zentralperspektive. Malerei ist für ihn wie für die Vertreter der klassischen Avantgarde Verzicht auf Illusionismus und Betonung der malerischen Mittel: Farbe, Form und Fläche.
Neben der begrenzten Farbpalette ist das Ineinanderübergehen von Formen ein Stilmerkmal Griebels Kunst. So malte der Künstler Birne und Pferd in der archaisierenden männlichen Figurendarstellung hinein und umgekehrt. Schlagschatten sorgen für zusätzliche Verwirrung, da sie die Objekte verdoppeln.
Fritz Griebels Kunst entwickelte sich unter dem Einfluss der internationalen Avantgarden des 20. Jahrhunderts. Dass er eine eigene Bildsprache und Ikonographie entwickelte, ist bis heute nur wenigen bekannt: Er war ein stiller Teilnehmer in der fränkischen Provinz. Geistige Strömungen wie der Surrealismus, Stilrichtungen wie Kubismus und Abstraktion wurden von ihm aufgegriffen und weiterentwickelt.
Die Idee, in der Malerei Bildmotive in rätselhaften Kombinationen zu arrangieren, geht auf Giorgio de Chirico (1888–1978), dem Hauptvertreter der Pittura metafisica zurück (Beispiel: Die metaphysische Malerei (verschoben). Sie wurde dann von den Surrealisten übernommen. Sie entsprach der von Sigmund Freud angewandten Methode der freien Assoziation, die das Unbewusste in den Gedanken seiner Patienten, das sich auch in Träumen äußerte, freizulegen suchte.
Griebels Bild ist voller sexueller Anspielungen. So symbolisieren die runden und birnenförmigen Früchte das Weibliche, die braunen Stäbe in der linken Bildhälfte das männliche Geschlecht. Über der roten Amphore, die den Blick des Betrachters auf sich zieht, steht ein einziger roter Stab, der jeden Moment in die Öffnung des Gefäßes fallen bzw. eindringen kann. Symbolisch verweist der Künstler auf den Geschlechtsakt. Auch der sich ergießende Mais kann so gedeutet werden.
Scheinen die Gegenstände zunächst wahllos auf der Fläche verteilt worden zu sein, stellt sich doch bald ein Beziehungsgeflecht aus Formen und Farben heraus: Die dunkelgrüne Birne vor dem Oberkörper des Aktes ähnelt in ihrer Form der Gitarre, ein beliebtes Motiv der Kubisten. Der Akt wird sogar von diesen Objekten eingerahmt. Roter Stab und Amphore sind neben der männlichen, rosafarbenen Figur angeordnet. Die Farbe Rosa speist sich aus der Farbe Rot. Beide sind sowohl in der Amphora als auch im Akt vereinigt.
Interessant ist die mandelförmige, hellblaue Fläche über dem Kopf der Figur, auch hier wurde die blaue Farbe teilweise in die Figur hineingemalt. Sie könnte als das Unbewusste gedeutet werden. Das Unbewusste ist ein Teil der menschlichen Psyche, das dem Bewusstsein zwar zugrundeliegt, aber diesem nicht direkt zugänglich ist. Das Bild Griebels würde demnach einen psychosexuellen Traum der jungen männlichen Figur bzw. Skulptur vor der Folie der Archaik visualisieren. Nach Freud (1856–1939) besteht das Unbewusste vor allem aus verdrängten oder abgewehrten Bewusstseinsinhalten.
Freud und Griebel verbindet das Interesse an antiker Kleinkunst, am griechischen Mythos und der antiken Philosophie. Beide studierten auf Reisen antike Stätte und Sammlungen. Freud hatte in seiner Bibliothek eine große Anzahl altertumswissenschaftlicher Literatur; die Bibliothek Griebels hat sich leider nicht erhalten, aber er war sehr belesen. Freud war darüber hinaus Sammler antiker Kleinkunst und für seine Erklärung von monotheistischen Religionen war seine Beschäftigung mit jüdischen und ägyptischen Altertümern wegweisend.
Nach neueren Forschungen wird die These verfolgt, dass die Psychoanalyse als letzte Neugründung einer Wissenschaft in der Moderne sich auf die Antike begründet. Fritz Griebel versuchte in seiner Kunst – so die These –, antike Kunst, Religion und Philosophie mit den Stilmitteln der Moderne in eine neue Kunstsprache zu überführen. Die fundamentale Bedeutung der Antike für die Kunst Fritz Griebels sowie deren Verbindung zu den Lehren Freuds könnten einen Pfad zur Interpretation für eine wichtige Werkgruppe des künstlerischen Nachlasses von Fritz Griebel bilden.
Antje Buchwald 2015
Literatur:
Claudia Benthien, Hartmut Böhme, Inge Stephan (Hg.): Freud und die Antike. Göttingen 2011.