Vor einem Tisch mit weißer Tischdecke sitzt eine Frau in einem roten Sommerkleid. Vertieft blickt sie auf Papiere, die auf ihrem Schoß liegen. Sie sitzt am äußersten Rand des Tisches. Fast wird sie von dem großen, sich in der Bildmitte befindenden Blumenstrauß auf dem Tisch verdeckt. Üppig und in voller Blüte stehen die blauen und lilafarbenen Schwertlilien in einer Steinzeugvase. Zwei Pflanzen umrahmen den nach unten geneigten Kopf der Frau. Ein Wasserglas, ein weißer Teller, auf dem sich grüne Früchte befinden stehen vor ihr auf dem Tisch sowie ein länglich, roter Gegenstand.
Der Hintergrund ist nicht weiter bestimmt. In fast impressionistischer Weise verschwimmt er in Blau- und Pastelltönen. Ist der verdeckte rote Stuhl neben der Frau zwar deutlich konturiert, so scheint seine Farbe auf die Wand abzufärben. Deutlich erkennbar ist die weiß gestrichene Holztür hinter der Frau. Das blaue rechteckige Farbfeld könnte ein Klavier sein. Das Bild weist einen harmonischen Farbklang auf: Abstufungen von Blau und Weiß worden durch Grün und seiner Komplementärfarbe Rot auf der Bildfläche verteilt.
Die lesende Frau taucht auf Gemälden vermehrt im 17. Jahrhundert während des Goldenen Zeitalters der Niederlande auf. Ist die Frau zunächst über Andachtsbücher gebeugt, hält sie später den (Liebes-) Brief in den Händen. Mit dem Aufkommen des Romans im 18. Jahrhundert sieht man sie in fast allen Lebenslagen mit dem Buch: auf dem Bett, auf dem Sofa, in der Natur oder vor einem Tisch sitzend.
Was fasziniert Künstler über die Jahrhunderte hinweg an diesem Motiv? Es ist ein Moment der Innerlichkeit, der Entspanntheit und des Soseins.
Die junge Frau, deren Haare streng hinten zu einem Knoten gebunden sind, zieht mit ihrem Signalrot des Kleides die Blicke auf sich. Es ist die Frau des Künstlers, Gertrud Griebel (1905–1991). Sie war Ärztin und gläubige Christin.
Die Lilie ist neben der Rose die am meisten bevorzugte Blume christlicher Kunst. Die weiße Lilie ist vor allem ein Symbol für die Jungfrau Maria und für die Kirche; seltener für die Auferstehung.
Die Kombination des Stilllebenhaften mit dem Porträt war eins der lebenslangen Themen Griebels, deren Auseinandersetzung in den frühen 1930er-Jahren einsetzte. Beginnend mit Scherenschnitten entwickelte der Künstler sein Figurenprogramm mit Stillleben, die in der Werkreihe »Frauen und Früchte« kulminierte.
Griebel malte seine Frau, die er 1939 als Patient kennenlernte, als selbstbewusste junge Frau in einem bürgerlichen Ambiente. Das Lesen scheint kein angenehmer Zeitvertreib mehr zu sein, sondern es dient zur Erforschung der Welt. Der Lilienstrauß kann für Fritz Griebel sinnbildlich für seine als rein und wahr empfundene Liebe zu seiner Frau stehen.
Antje Buchwald 2017
Literatur:
- M. Pfister-Burkhalter: Lilie. In: LCI. Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 3. Rom u.a.1971, S. 100–102.