Feuerlilien im Glas

Fritz Griebel: Feuerlilien im Glas, 1920, Aquarell. 28 x 40 cm.

Das Leben in der Natur gibt die Wahrheit in allen Erscheinungen zu erkennen. Darum sieh sie fleißig an, richte dich danach und geh nicht ab von der Natur. […] Denn wahrhaftig steckt die Kunst in der Natur, wer sie heraus kann reißen, der hat sie.
Albrecht Dürer

Orange-rote Feuerlilien (Lilium bulbiferum) stehen in einer gläsernen Vase. Sie sind voll erblüht – kurz vor dem Verwelken, worauf die am Boden liegenden Blütenblätter und ein Staubgefäß hindeuten. Ein Stiel mit zwei Blüten steht etwas separiert von den restlichen Pflanzen, deren Blüten dicht aneinander gedrängt sind. In dem Blütenmeer lugt ein Blatt hervor. Botanisch präzise malte Fritz Griebel die Pflanzen: Er zeigt uns die feinen Farbabstufungen in den Blütenblättern, die dunkelroten Staubgefäße mit den pudrigen Pollen und die langen, dünnen, dunkelgrünen Blätter aus allen Ansichten.

Sein Naturstudium setzte Griebel in der Darstellung der gläsernen Vase fort. In der Geschichte der Malerei bedeutete besonders in der barocken niederländischen Stillebenmalerei die Wiedergabe transparenten Glases hohes künstlerisches Können. Griebel malte den Rand des Gefäßes mit feinen grau-weißen geraden und halbrunden Linien. Grünliche Lichtreflexe auf dem durchsichtigen Wasser und blassrote am Boden der Vase suggerieren Stofflichkeit. Gekonnt überführte Fritz Griebel die blassroten Lichtbrechungen in den Raum. Auch die vergrößert erscheinenden Pflanzenstiele in der Vase erzeugen den Eindruck von Wasser und Glas.

Bereits in diesem Jugendwerk – Fritz Griebel war einundzwanzig Jahre alt, als er das Aquarell malte –, überzeugt seine kompositorische Anordnung. Die separierte und etwas längere Feuerlilie verleiht dem Bild einen asymmetrischen Aufbau, der von den herabgefallenen Blütenblättern und Staubgefäß wieder harmonisiert wird. Insgesamt gelang dem jungen Künstler eine spannungsvolle Komposition.

Albrecht Dürer: Das große Rasenstück, 1503, Aquarell u. Deckfarben, m. Deckweiß gehöht, auf Karton gezogen, 40,8 x 31,5 cm, Albertina, Wien.

Das Naturstudium hat in Nürnberg lange Tradition. Weltbekanntes Beispiel ist Albrecht Dürers (1471–1528) »Großes Rasenstück«. Es ist neben der »Iris« (Kunsthalle Bremen) die bisher einzige gesicherte Naturstudie des Künstlers. Das Bild zeigt einen Ausschnitt einer Wiese auf einer Erdscholle mit verschiedenen Gräsern und Kräutern nach genauer Naturstudie vor einem niederen Horizont. Im Vordergrund schimmert eine von Moosen gesäumte Wasserlache, aus denen das feine Wurzelwerk seine Feuchtigkeit zieht. Mühelos kann ein Botaniker die heimische Flora bestimmen: Blattwegerich rechts im Mittelgrund, Gänseblume, Schafgarbe, Löwenzahn, Wiesenrispe und viele mehr. Der Entwicklungszustand der Pflanze lässt darauf schließen, dass Dürer eine Fettwiese im Juni malte. Wurden Pflanzen im Mittelalter eine dienende Rolle als schmückendes Beiwerk oder symbolischer Hinweis zugeschrieben, so malte Dürer erstmals Porträts von Pflanzen als alleiniges Bildthema – eine Revolution in der Malerei.

Einen Schritt weiter ging die Naturforscherin und Malerin Maria Sibylle Merian (1647–1717). Sie war die Tochter von Matthäus Merian dem Älteren (1593–1650), der Verleger und Kupferstecher in Frankfurt war und als Herausgeber des »Theatrum Europaeum« und seiner häufig reproduzierten Stadtansichten weithin berühmt war. Bereits mit dreizehn Jahren hatte Maria Sibylle Merian begonnen, Insekten und Pflanzen nach der Natur zu malen. Insekten galten nach der damaligen Auffassung der christlichen Kirche als »Teufelsgeziefer«. In ihrem Hauptwerk »Metamorphosis insectorum Surinamensium oder Verwandlung der surinamischen Insekten« von 1705 beschreibt sie in Texten und Kupferstichen den Lebenszyklus von Insekten in der damals niederländischen Kolonie Surinam (Niederländisch-Guayana). Dem von den Zeitgenossen bewunderten Werk ging eine 1699 begonnene zweijährige Expedition voraus. Merian gehört zu den ersten Forschern, die Insekten systematisch beobachteten und etwas über deren tatsächlichen Lebensumstände herausfand. So konnte sie aufzeigen, dass jede Schmetterlingsart als Raupe von einigen wenigen Futterpflanzen abhängig ist und ihre Eier nur an diesen Pflanzen ablegt.

Maria Sibylle Merian: Lilien, 1705, kolorierter Kupferstich. Aus: Metamorphosis insectorum Surinamensium, Taf. XXII.

Über die rote Lilie schreibt sie ihre Beobachtungen detailliert nieder, die sich auch in der Abbildung wieder finden:

»Diese roten Lilien wachsen wild auf einer weißen Zwiebel. Ihre Eigenschaft ist nicht bekannt. Ihre grünen Blätter haben einen Glanz wie der von Seide. Ich habe einige von den Zwiebeln mitgebracht. Diese haben in den Gärten von Holland erst Blüten und danach Blätter hervorgebracht. Die auf dem grünen Blatt liegende haarige Raupe hat einen roten Kopf und rote Füße. Der Leib hat blaue Flecke, die mit gelben Ringen umsäumt sind. Die Haare sind schwarz und hart wie Eisendraht. Die Raupe nimmt die grünen Blätter als Nahrung. Am 4. Juni hat sie ein ovales Gespinst gemacht und ist darin zu einer braunen Puppe geworden, wie eine in der Mitte der Pflanze liegt und woraus am 30. Juni ein schöner Eulenfalter schlüpfte. Sein Vorderflügel waren holz- oder leicht ockerfarben. Die Hinterflügel sind orange mit schwarzen Flecken, so wie es der hier fliegende Falter zeigt. Die kleine rote Raupe mit grünen und weißen Streifen habe ich in Surinam neben diesen Lilien gefunden. Am 10. August machte sie ein weißes Gespinst, wie es auf dem grünen Blatt liegt. Hieraus ist am 24. August eine gelbschwarze Fliege (wie sie hier gezeigt wird) geschlüpft. Diese Raupe ist völlig verschieden von der Nr. 12 auf der Banane. Daraus wird jedoch fast eine Art Eulenfalter. Das Gewächs ist die Lilio-Narcissus Polyanthos, flore incarnato, fundo ex Luteo albescente Sloane Cat. Jamaic. und wurde von Hermans in seinem Prodromus paradisi Batavi beschrieben unter dem Namen Lilium Americanum puniceo flore, Bella dona dictum.«

Alle drei Künstler bedienen sich eines sachlich forschenden Blicks. Sie gehen in die Natur bzw. holen sich die Natur ins Atelier. Die Beobachtung der Natur ist hierbei auch mit religiöser Ehrfurcht gekoppelt. Das Wunder der Schöpfung verbunden mit künstlerischer Intensität kennzeichnen Maria Sibylle Merians Lebenswerk. Albrecht Dürer sieht in allen Erscheinungen der Natur Wahrheit. Sie ist für ihn die verborgene Handschrift des Schöpfers als Künstler. Wer die Schönheit in der Natur gewahr wird, wer sie »herausreißen«, d. h. zeichnen kann, der ist der wahre Künstler: »Das Leben in der Natur gibt die Wahrheit in allen Erscheinungen zu erkennen. Darum sieh sie fleißig an, richte dich danach und geh nicht ab von der Natur. […] Denn wahrhaftig steckt die Kunst in der Natur, wer sie heraus kann reißen, der hat sie.«

Die Natur ist auch die große Lehrmeisterin von Fritz Griebel. Seine Feuerlilie ist feinmalerisch, fast fotorealistisch gemalt. Das Naturstudium wird für seine weitere künstlerische Entwicklung bedeutsam bleiben. Doch wird er mehr und mehr hinter die Erscheinungen blicken, sich von dem künstlerischen Anliegen Dürers entfernen und eigene Wege beschreiten.

 

Literatur:

  • Maria Sibylle Merian: Metamorphosis insectorum Surinamensium oder Verwandlung der surinamischen Insekten. Amsterdam 1705 (Digitalisat).
  • Erwin Panofsky: Das Leben und die Kunst Albrecht Dürers. Hamburg 1977, S. 317.