Annette einen Blumenkranz flechtend

Fritz Griebel: Annette einen Blumenkranz flechtend, 1940er-Jahre, Tuschzeichnung, 21 x 22 cm, FG 2643

Dieses Werk des Monats ist vor allem aufgrund seiner Komposition von Relevanz. Es zeigt Fritz Griebels Tochter Annette als Halbfigur in Seitenansicht, wie sie einen Blumenkranz bindet. Im Hintergrund erstreckt sich eine Parklandschaft mit Villen in Bamberg. Seit 1939 lebte Griebel dort und heiratete die Ärztin Gertrud Jensen. 1940 und 1941 kamen die Kinder Annette und Jens Peter zur Welt.

Die Skizze muss um 1946 entstanden. Hierauf deutet zum einen Annettes Alter zwischen sechs und sieben Jahren hin und zum anderen war Fritz Griebel nach seinem Kriegsdienst 1945 wieder in Bamberg beheimatet. Mit schnellen, präzisen Strichen fing er seine Tochter ein: Das wohlproportionierte kindliche Profil, die zu „Rattenschwänzen“ zusammengebundenen Zöpfe sowie das konzentrierte Flechten der Blumenstengel – diese wenigen Beobachtungen führt Griebel in ein stimmungsvolles Porträt zusammen, das er mit „Mai“ in Schreibschrift mit dem Bleistift unten rechts auf der Zeichnung beschriftete.

Mary Stevenson Cassatt: In der Loge/In der Oper, 1879, Öl auf Leinwand, 80 x 64,8 cm. Museum of Fine Arts, Boston. Quelle: Google Art Project

Die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht am 8. Mai 1945 war noch nicht lange her; Deutschland befand sich im Wiederaufbau – nicht nur der Städte  und des Sozial- und Wirtschaftssystems, sondern besonders auch einer humanitären Gesellschaft. Annette wird zu einer Symbolfigur des Friedens und der Hoffnung.

Sie nimmt fast die gesamte Bildfläche ein. Kompositorisch sind Parallelen zu Mary Stevenson Cassatts (1844–1926) Bild In der Loge erkennbar. Wie in Griebels Skizze nimmt eine Figur – hier eine Frauenfigur im Tageskostüm, in Trauerkleidung –, fast die gesamte rechte Bildhälfte ein. Die Dame hält ein Opernglas und Fächer in den Händen. Während sie das Geschehen auf der Bühne zu verfolgen scheint, beobachtet sie im Hintergrund ein Mann ihr schräg gegenüber mit seinem Opernglas. Hier geht es um die Dialektik des Blicks. Die Frau entzieht sich wie Annette unserer Blicke. Stattdessen werden wir wie der Mann in der Oper zu Beobachtern einer kindlichen Szene im Frühling.

Antje Buchwald

2020